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Die Jungfernbraut

Titel: Die Jungfernbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Coulter
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betrachtete sich in dem langen Spiegel auch von hinten. O ja, ein richtiger Junge, bis hin zu den schwarzen Stiefeln. Leise pfeifend öffnete sie das Fenster. Jetzt brauchte sie nur noch an der Ulme in den Garten hinabzuklettern.
    Colin wohnte im zweiten Stock eines alten georgianischen Hauses in der Carlyon Street, nur drei Straßen entfernt. Es war noch nicht dunkel, und Sinjun pfiff weiter vor sich hin, um Furcht erst gar nicht aufkommen zu lassen und um den Eindruck zu erwecken, daß hier ein Junge einen kleinen Abendbummel machte. Sie sah zwei Herren in weiten Capes; sie lachten und rauchten Zigarren und schenkten ihr nicht die geringste Beachtung. Ein zerlumpter Junge fegte für jeden Passanten den Weg, und sie bedankte sich und warf ihm eine Münze zu. Ohne Zwischenfälle erreichte sie das Haus und betätigte energisch den riesigen Türklopfer, der die Form eines Adlerkopfes hatte.
    Von drinnen war kein Laut zu vernehmen. Sie klopfte wieder. Nun hörte sie ein Kichern, und eine hohe Frauenstimme schimpfte: »Nein, Sir, nicht! Lassen Sie das doch! Nein, das dürfen Sie nicht, nicht hier. Wir bekommen Besuch. Nein, Sir ...« Nach weiterem Kichern öffnete sich die Tür, und vor Sinjun stand eine der hübschesten Frauen, die sie je gesehen hatte. Ein sehr tiefer Ausschnitt stellte üppige weiße Brüste großzügig zur Schau, das helle Haar war zerzaust, ihre Augen funkelten ausgelassen, und sie grinste schelmisch.
    »Na, wer bist denn du, mein Hübscher?« Sie warf sich in die Brust und stemmte eine Hand in die Hüfte.
    Der Hübsche schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Wer soll ich denn sein? Was wäre dir am liebsten? Vielleicht dein Vater? Nein, das geht wohl nicht, denn dann müßte ich den Herrn ausschimpfen, der dich zum Lachen gebracht hat, und das willst du bestimmt nicht, stimmt's?«
    »Oh, du bist ja ein kleiner Schlawiner! Späße, Spielchen und eine gut geölte Zunge. Möchtest du hier jemanden besuchen?«
    Sinjun nickte. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ein Herr hastig in einem Zimmer verschwand. »Ich möchte zu Lord Ashburnham. Ist er zu Hause?«
    Das Mädchen nahm eine noch provozierendere Pose ein und kicherte wieder. »Ah, Seine Lordschaft ist'n besonders Hübscher. Aber leider ein armer Schlucker. Kann sich kein nettes Mädchen leisten, auch keinen Diener. 'S heißt, daß er 'ne reiche Person heiraten will, aber er selbst erzählt nix darüber. Wahrscheinlich ist diese Erbin so'n Trampel, in feine Seide gepackt. Der Ärmste!«
    »Manche Erbinnen können sogar pfeifen, wie ich gehört habe«, sagte Sinjun. »Die Wohnung Seiner Lordschaft ist im zweiten Stock, nicht wahr?«
    »Ja«, bestätigte das Mädchen. »He, wart mal! Ich weiß nicht, ob er da ist oder nicht. Hab ihn seit zwei Tagen nicht mehr gesehen. Tilly, meine Freundin, ist mal raufgegangen, um ihm so'n bißchen Spaß anzubieten — auf Kosten des Hauses, hat Tilly gesagt — aber er ist nicht dagewesen. Jedenfalls hat er keine Antwort gegeben — und was für'n Mann tat denn schon die Schnauze halten, wenn Tilly ihn ruft?«
    Sinjun nahm zwei Stufen auf einmal, rief aber über die Schulter hinweg: »Wehn er nicht da ist, komme ich vielleicht zurück, und wir zwei könnten eine Tasse Tee trinken und 'n bißchen plaudern, wie wäre das?«
    Das Mädchen lachte. »Ach, mach, daß du wegkommst, mein Hübscher! Ah, Sir, da sind Sie ja wieder! Wo war'n wir denn stehengeblieben? Oh, wie ungezogen Sie sind!«
    Sinjun grinste noch immer, als sie oben ankam. Es war ein gediegenes Haus mit breitem Korridor, sehr gepflegt, frisch gestrichen, ein passendes Logis für einen Gentleman. Ob die hübschen Mädchen immer hier waren? Sie klopfte an Colins Tür. Keine Reaktion. Sie klopfte wieder. Bitte, dachte sie, bitte laß ihn hier sein. Sie hatte ihn so lange nicht gesehen. Vier Tage ohne ihn! Das war einfach zuviel. An jenem ersten Morgen hatten sie Douglas hinters Licht geführt, aber seitdem hatte Colin nicht versucht, sie zu besuchen. Sie mußte ihn einfach sehen, berühren, ihm zulächeln.
    Schließlich rief eine tiefe Stimme: »Verschwinden Sie, wer auch immer Sie sein mögen!«
    Es war Colin, aber er hörte sich seltsam heiser an. War jemand bei ihm? Ein Mädchen wie das im Erdgeschoß?
    Nein, das konnte sie einfach nicht glauben. Sie klopfte wieder.
    »Verdammt, hauen Sie ab!« Dem Fluch folgte ein bellendes Husten.
    Sinjun hatte plötzlich Angst. Zu ihrer großen Erleichterung war die Tür nicht abgeschlossen. Sie betrat einen kleinen

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