Die Jungfrau im Lavendel
einziges Beweismittel besaßen sie den Brief aus Onkel Ferdinands Jackettasche und, als höchst verdächtiges Indiz, die Tatsache, daß Virginia verschwunden war. Spurlos, und das nun seit fünf Wochen. Ein Mann stand mit ihrem Verschwinden im Zusammenhang, der nach Aussage der beiden Mädchen im Kloster, die ihn kennengelernt hatten, ein Italiener war. Hatte der Mann Virginia entführt, um eine Erpressung damit zu verbinden, konnte das Ziel nur Anita sein. Glaubhafter war die Vermutung, daß er von Anita geschickt war, das Mädchen zu holen.
An diesem Punkt hakte Clemens sich immer wieder fest. Warum eigentlich sollte Anita ihre Tochter entführen lassen? Als sie den Brief an Virginia schrieb, wußte sie möglicherweise noch nicht, wo sich das Mädchen befand. Kurz darauf mußte sie es erfahren haben. Wodurch? Von wem?
Clemens fand es höchst ungeschickt, daß Juschi und sein Vater nicht doch einmal mit Mechthild Stettenburg über den Fall gesprochen hatten. Anita konnte es ganz simpel von der zweiten Frau ihres verflossenen Mannes erfahren haben, die ja bekanntlich von ihrer Stieftochter nichts wissen wollte, sich stets geweigert hatte, sie überhaupt kennenzulernen. Um das Mädchen ein für allemal los zu sein, konnte sie ja nach dem Tod ihres Mannes Anita schlicht und einfach mitgeteilt haben, wo sich das Mädchen befand.
Nur paßte das nicht. Das Mädchen war verschwunden, ehe Ferdinand starb. Und warum hätte Anita, bei solch geklärten Verhältnissen, nicht selbst zu ihrer Tochter fahren können, wozu mußte sie dann einen unbekannten Italiener damit beauftragen?
Von Virginia besaß Clemens leider kein Bild, von Anita nur ein paar Schnappschüsse aus den ersten Jahren ihrer Ehe mit Ferdinand.
Er selbst, fand Clemens, würde sie dennoch danach erkennen. Er hatte einen guten Blick für Menschengesichter, auch wenn die Zeit sie verändert hatte.
Mit all diesen Informationen im Kopf begann Clemens seine Nachforschungen. Man mußte mit Leuten ins Gespräch kommen, die Madame Henriques kannten, möglichst auch den gutaussehenden Italiener, der bestimmt nicht Wallstein hieß, und am schönsten wäre es natürlich, jemanden zu finden, der ein junges Mädchen in Begleitung von Madame Henriques gesehen hatte. In letzterem Fall wäre ja alles in schönster Ordnung, Anita hatte ihre Tochter und war mit ihr verschwunden. Und das, so folgerte Clemens, geht uns einen feuchten Kehricht an.
Sie konnten sich beispielsweise in Mailand aufhalten. Das Auto hatte eine Mailänder Nummer gehabt, der kleine Brief Virginias war von dort gekommen, es war also denkbar, der Italiener wohnte dort, und sie hielten sich bei ihm auf. Möglich war auch, da Anita nun einen portugiesischen Namen führte, daß sie in Portugal oder, was Clemens instinktiv für näherliegend hielt, in Brasilien waren.
Clemens räkelte sich in der Sonne, nicht von allzu großem Jagdeifer beseelt, aber dann ging er doch daran, hier und da herumzufragen. Läden und Boutiquen, in denen Anita vielleicht gekauft hatte. Tankstellen, Bars, Bistros. Gleich bei der nächstgelegenen Tankstelle hatte er Glück. Er gab sich gesprächig, erzählte, an den Kühler seines Porsche gelehnt, daß er verdammtes Pech habe, er sei hergekommen, um seine Tante zu besuchen, und nun sei sie nicht da. Offenbar verreist.
Ob er sich denn nicht angemeldet habe, wollte der junge Tankwart wissen.
»Eben nicht, ich Kamel. Es handelt sich um Madame Henriques, drunten im Mas Maurice, wissen Sie, ich bin João Henriques.«
»Ah!« staunte der Mann bereitwillig. »Dann kommen Sie wohl auch aus Rio de Janeiro, genau wie Madame.« Die erste Spur.
Ja, versicherte Clemens eifrig, da komme er her. Er sei das erstemal in Frankreich, und nun so ein Malheur.
»Ich habe Madame auch seit längerer Zeit nicht gesehen. Sie muß verreist sein. Monsieur hat allerdings vor einigen Tagen hier getankt. Er wolle für einige Zeit verreisen, sagte er.«
»Na, so ein Pech«, wiederholte Clemens und verkniff sich die Frage, ob es sich bei Monsieur um Monsieur Henriques handle. »Meine Tante wohnt ja wohl schon eine ganze Weile hier«, sagte er nebenhin. »Es gefällt ihr offenbar sehr gut.«
Seit zwei, drei Jahren etwa, erfuhr er. Und sie bewohne ja auch eines der schönsten Häuser am Cap.
»Meine Cousine wollte übrigens auch herkommen. Sie haben nicht zufällig ein junges Mädchen in Begleitung von Madame oder Monsieur gesehen?«
Der Tankwart schüttelte den Kopf, und sein Blick wurde abweisend.
Genug
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