Die Jury
ein, doch aufgrund der Staus konnten sie nicht die andere Seite des Platzes erreichen. Ihre Türen glitten vor dem Café auf.
Zum erstenmal in diesem Jahr stieg die Temperatur auf fast vierzig Grad. Ein wolkenloser Himmel wölbte sich über Clanton, und es wehte kein Wind, um Hitze und Schwüle ein wenig zu lindern. Selbst im Schatten dauerte es nur fünfzehn Minuten, bis jedem das Hemd am schweißfeuchten Rücken festklebte. Im Sonnenschein reduzierte sich diese Zeit auf fünf Minuten. Einige der schwächeren alten Männer und Frauen suchten im Gerichtsgebäude Zuflucht.
Die Menge schwoll an. Die meisten Demonstranten waren fünfzig, sechzig oder noch älter, aber nun kamen auch jüngere Leute, militante, zornig wirkende Schwarze. Sie hatten die Bürgerrechtsmärsche in den sechziger Jahren verpaßt und witterten nun eine Chance, zu schreien, zu protestieren, »We Shall Overcome« zu singen und darauf hinzuweisen, als Schwarze in einer weißen Welt unterdrückt zu werden. Sie schlenderten umher und warteten darauf, daß jemand mit dem Protest begann. Nach einer Weile traten drei Studenten zur Treppe vor dem Gerichtsgebäude, hoben ihre Schilder und riefen: »Freiheit für Carl Lee! Freiheit für Carl Lee!«
Sofort wiederholte die Menge den Schlachtruf:
»Freiheit für Carl Lee!«
»Freiheit für Carl Lee!«
»Freiheit für Carl Lee!«
Die Demonstranten verließen den Schatten der Bäume und näherten sich wieder dem Podium mit den Lautsprechern. Ihre Rufe galten keinem bestimmten Ziel, doch in einem perfekten Chor wiederholten sie:
»Freiheit für Carl Lee!«
»Freiheit für Carl Lee!«
Die Fenster des Gerichtsgebäudes öffneten sich; Angestellte und Sekretärinnen blickten verblüfft nach draußen. Der Lärm reichte mehrere Blocks weiter, und die kleinen Geschäfte und Büros am Platz leerten sich. Ladeninhaber und Kunden traten auf die Bürgersteige und beobachteten das Geschehen mit einer Mischung aus Erstaunen und Verwirrung. Die Demonstranten bemerkten das Publikum, und seine Gegenwart verlieh ihnen noch mehr Enthusiasmus. Ihre Stimmen wurden lauter. Der Aufruhr weckte auch die Aufmerksamkeit der wartenden Pressegeier. Ausgerüstet mit Mikrofonen und Kameras eilten sie über den Rasen.
Ozzie und seine Leute regelten den Verkehr, bis der Highway und die Nebenstraßen hoffnungslos verstopft waren. Sie blieben präsent, obgleich nichts auf die Notwendigkeit eines Eingreifens hindeutete.
Agee und alle Ganztags-, Teilzeit-, pensionierten und angehenden schwarzen Prediger aus drei Countys stolzierten durch die Menge der Schreienden zum Podium. Ihr Anblick brachte die Versammelten erst richtig auf Trab. Sprechchöre hallten über den Platz, durch die Nebenstraßen zu den Wohnvierteln, bis hin zu den ersten Farmen außerhalb der Stadt. Zweitausend Schwarze winkten mit ihren Schildern und brüllten sich die Lungen aus dem Leib. Agee brüllte mit den anderen. Er tanzte übers Podium. Er klatschte in die Hände, ebenso wie die übrigen Priester. Er leitete die rhythmischen Stimmen wie ein Dirigent und fügte dem Spektakel einen weiteren spektakulären Aspekt hinzu.
»Freiheit für Carl Lee!«
»Freiheit für Carl Lee!«
Fünfzehn Minuten lang feuerte Agee die Menge an, verwandelte sie in einen wütenden Mob. Dann hörten seine erfahrenen Ohren die ersten Anzeichen von Ermüdung; er griff nach dem Mikrofon und bat um Ruhe. Die keuchenden, schwitzenden Demonstranten riefen noch einige Sekunden lang, und dann breitete sich Stille aus. Agee forderte sie auf, vor dem Podium etwas Platz zu lassen, damit die Journalisten dort ihre Arbeit erledigen konnten. Er kündigte ein gemeinsames Gebet an, und sofort veranstaltete Reverend Roosevelt eine wortgewaltige Fiesta, die vielen Anwesenden Tränen in die Augen trieb.
Nachdem er das Marathon-Gebet mit einem erlösenden »Amen« beendet hatte, trat eine enorm dicke Schwarze mit funkelnder roter Perücke an die Mikrofone, klappte ihren gewaltigen Mund auf und sang mit dunkler, volltönender Stimme die erste Strophe von »We Shall Overcome«. Die hinter ihr stehenden Prediger falteten sofort die Hände und schwankten im Takt. Spontaneität erfaßte die Menge, und zweitausend Kehlen sangen ebenfalls. Es klang überraschend harmonisch. Überall in der Stadt hörte man das traurige Lied.
Als die Stille zurückkehrte, rief jemand »Freiheit für Carl Lee!« und löste damit neue Sprechchöre aus. Agee ließ die Menge einige Minuten lang gewähren, bevor er wieder das
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