Die Jury
Bürgermeister.
»Ja. Und dumm obendrein. Aber das sollte unter uns bleiben.« Ozzie stöhnte leise. »Basiert seine Entscheidung auf einer festen juristischen Grundlage?«
Jake schüttelte den Kopf. »Eher auf juristischem Treibsand.« Der Sheriff nahm einen anderen Eisbeutel und massierte behutsam den Nacken. Seine Stimme klang schmerzerfüllt. »Ich möchte vermeiden, daß es zu weiteren Unruhen kommt. Dieser Unsinn muß unbedingt aufhören – sonst gibt es in unserem Krankenhaus bald keine freien Betten mehr. Es gilt, sofort etwas zu unternehmen. Die Schwarzen sind sauer und impulsiv; der geringste Anlaß könnte genügen, um sie wieder auf die Straße zu bringen. Einige von ihnen warten nur auf einen Grund, um zu schießen, und die weißen Kutten geben gute Ziele ab. Außerdem habe ich so eine Ahnung, daß der Klan diesmal etwas wirklich Dummes anstellt: Vielleicht läßt er sich dazu hinreißen, jemanden zu töten. Seit zehn Jahren hatten die Kluxer nicht mehr soviel Publicity im ganzen Land. Der Informant teilte mir mit, daß der KKK nach den Geschehnissen am Donnerstag Dutzende von Anrufen bekommen hat. Viele Leute bewarben sich um Mitgliedschaft und möchten bei dem hiesigen Rummel mitmischen.«
Wie in Zeitlupe neigte Ozzie den Kopf von einer Seite zur anderen und wechselte zum zweiten Mal den Eisbeutel. »Ich sage es nicht gern, Bürgermeister, aber meiner Meinung nach sollten wir den Gouverneur bitten, die Nationalgarde zu schicken. Ich weiß, es ist eine drastische Maßnahme, doch mir graut bei der Vorstellung, daß jemand ums Leben kommt.«
»Die Nationalgarde!« wiederholte der Bürgermeister fassungslos.
»Ja, genau.«
»Sie soll Clanton besetzen?«
»Um die Bürger zu schützen.«
»Und in den Straßen patrouillieren?«
»Ja. Mit Waffen und allem Drum und Dran.«
»Lieber Himmel, das ist wirklich drastisch. Halten Sie es nicht für ein wenig übertrieben?«
»Nein. Ganz offensichtlich habe ich nicht genug Männer, um hier Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Wir könnten nicht einmal dann einen Aufruhr beend en, wenn er direkt vor uns stattfände. Der Klan verbrennt überall Kreuze, und uns sind die Hände gebunden. Was machen wir, wenn die Schwarzen plötzlich beschließen, ihrem Zorn freien Lauf zu lassen? Mir fehlen Leute, Bürgermeister. Ich brauche Hilfe.«
Jake hielt den Vorschlag des Sheriffs für eine ausgezeichnete Idee. Wie sollte jetzt noch eine unvoreingenommene Jury ausgewählt werden, wenn die Nationalgarde das Gerichtsgebäude umstellte? Er dachte daran, wie die Vorgeladenen am Montag morgen eintrafen und vor dem Gericht schwerbewaffnete Soldaten, Jeeps und vielleicht sogar den einen oder anderen Panzer sahen. Wie konnten sie unter solchen Umständen objektiv bleiben? Wie konnte Noose darauf bestehen, den Fall in Clanton zu verhandeln? Wie konnten die Richter des obersten Gerichts es ablehnen, das Urteil zu revidieren, falls Carl Lee – Gott behüte! – verurteilt wurde? Ja, eine ausgezeichnete Idee.
»Was meinen Sie, Jake?« fragte der Bürgermeister und hoffte, in dem Anwalt einen Verbündeten zu finden.
»Ich glaube, Sie haben keine Wahl. Weitere Unruhen dürfen wir nicht zulassen. Dadurch ergäben sich vielleicht sehr negative politische Folgen für Sie.«
»Ich denke dabei nicht an die Politik«, lautete die Antwort. Jake und Ozzie wußten es natürlich besser. Beim letztenmal war der Bürgermeister mit einem Vorsprung von nur fünfzig Stimmen wiedergewählt worden, und vor jeder Entscheidung dachte er gründlich über die politischen Konsequenzen nach. Ozzie bemerkte das dünne Lächeln Jakes, als der Bürgermeister auf seinem Stuhl hin und her rutschte, während er sich eine von der Armee besetzte Stadt vorstellte.
Nach dem Sonnenuntergang am Samstag abend führten Ozzie und Hastings den Häftling Carl Lee durch die Hintertür des Countygefängnisses. Sie nahmen im Streifenwagen des Sheriffs Platz und unterhielten sich lachend, als sie langsam aus der Stadt fuhren, an Bates' Lebensmittelladen vorbei und zur Craft Road. Vor dem Haus der Haileys standen viele Autos, und deshalb parkte Ozzie am Straßenrand. Carl Lee schritt wie ein freier Mann durch die Vordertür, und sofort eilten ihm Verwandte, Freunde und die Kinder entgegen. Seine Ankunft war eine große Überraschung für sie. Der Vater drückte Tonya und die drei Söhne so fest an sich, als befürchtete er, daß er sie jetzt zum letztenmal umarmen könne. Die Menge sah stumm zu, als der große Mann
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