Die Jury
heirateten, doch dies war die einzige Mischehe in der großen Hailey-Familie. Es gab viele Haileys in Chicago, die meisten von ihnen Verwandte, und alle hatten schwarz geheiratet. Lesters blonde Frau beeindruckte die Sippe nicht. Er fuhr allein nach Clanton, in seinem neuen Cadillac.
Am späten Mittwoch abend traf er im Krankenhaus ein und begegnete dort mehreren Vettern, die im Wartezimmer des ersten Stocks Zeitschriften lasen. Er umarmte Carl Lee. Zum letztenmal hatten sie sich während der Weihnachtsferien gesehen; anläßlich der Feiertage brachen Tausende von Schwarzen auf, verließen Chicago und kehrten nach Mississippi oder Alabama heim.
Sie gingen in den Flur, um ungestört miteinander reden zu können.
»Wie geht es ihr?« fragte Lester.
»Besser. Viel besser. Vielleicht kann sie an diesem Wochenende nach Hause.«
Lester seufzte erleichtert. Vor mehr als elf Stunden hatte ihn ein Cousin mit der telefonischen Mitteilung erschreckt, Tonya sei dem Tode näher als dem Leben. Er ignorierte das RAUCHEN VERBOTEN-Schild, zündete sich eine Kool an und musterte seinen älteren Bruder. »Alles in Ordnung mit dir?«
Carl Lee nickte und sah durch den Korridor.
»Und Gwen?«
»Sie ist bei ihrer Mutter und noch verrückter als sonst. Bist du allein gekommen?«
»Ja«, erwiderte Lester. Es klang wie eine Entschuldigung.
»Gut.«
»Hör auf damit. Ich bin nicht den ganzen Weg hierhergefahren, um mir irgendwelchen Unsinn über meine Frau anzuhören.«
»Schon gut, schon gut. Hast du noch immer Luft im Bauch?«
Lester schmunzelte und lachte leise. Seit er die Schwedin geheiratet hatte, litt er an Blähungen. Sie brachte Mahlzeiten auf den Tisch, deren Namen er nicht aussprechen konnte, und oft reagierte sein Magen ziemlich empfindlich darauf. Er sehnte sich nach Kohl, Erbsen, gegrilltem Schweinefleisch und Koteletts.
Im zweiten Stock fanden sie ein leeres Wartezimmer mit Klappstühlen und einem kleinen Tisch. Lester besorgte zwei Becher schwarzen Kaffee vom Automaten, gab Milchpulver hinein und rührte mit dem Finger um. Er hörte aufmerksam zu, als Carl Lee von der Vergewaltigung erzählte und Verhaftung und Verhandlung schilderte. Dann holte er Servietten und zeichnete darauf Grundrisse, die Gericht und Gefängnis zeigten. Vier Jahre waren seit seinem Mordprozeß vergangen, und deshalb fiel es ihm schwer, sich an alle Einzelheiten zu erinnern. Er hatte nur eine Woche im Gefängnis verbracht, bevor er gegen Kaution aus der Haft entlassen worden war, und nach seinem Freispruch war er nie dorthin zurückgekehrt. Er hielt es damals für besser, aus Clanton zu verschwinden – wegen der Verwandten des Opfers.
Sie schmiedeten Pläne und verwarfen sie wieder. Bis spät in die Nacht hinein sprachen sie miteinander.
Am Donnerstagnachmittag konnte Tonya die Intensivstation verlassen, und man brachte sie in einem normalen Patientenzimmer unter. Ihr Zustand galt nun als stabil. Die Ärzte entspannten sich, und die Familie kaufte Bonbons, Spielzeug und Blumen. Mit zwei gebrochenen Kieferknochen und dem Mund voller Draht war Tonya gar nicht imstande, die Süßigkeiten zu essen; ihre Brüder verschlangen den größten Teil davon. Die ganze Zeit über blieben sie an ihrem Bett sitzen und hielten ihr die Hand, als wollten sie auf diese Weise Schutz und Trost gewähren. Ständig befanden sich Freunde und Fremde im Zimmer, klopften ihr sanft auf die Schulter und betonten, wie nett und lieb sie sei. Sie behandelten das Mädchen so, als stelle es etwas Besonderes dar; natürlich wußten alle, was es hinter sich hatte. Die Besucher kamen in Gruppen und wechselten einander ab, gingen vom Flur ins Zimmer und kehrten dann in den Korridor zurück. Die Krankenschwestern beobachteten sie wachsam.
Die Wunden schmerzten, und manchmal weinte Tonya. Einmal pro Stunde bahnten sich die Schwestern einen Weg durch die Menge und gaben der Patientin Sedative, die das Brennen und Stechen in ihrem Körper verbannten und ihr Ruhe gaben.
An jenem Abend schwiegen die Leute im Zimmer, als das Fernsehen von der Vergewaltigung berichtete. Die Mattscheibe zeigte zwei Weiße, aber das Mädchen konnte sie kaum erkennen.
Das Countygericht öffnete um acht und schloß um siebzehn Uhr. Freitag bildete die einzige Ausnahme; dann wurden die Türen schon um sechzehn Uhr dreißig verriegelt. Um halb fünf am Freitagnachmittag versteckte sich Carl Lee in der Toilette des Erdgeschosses und hörte, wie sich Stille im Gebäude ausbreitete. Eine Stunde lang rührte
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