Die Kälte Des Feuers
sanft und freundlich zu sein und keine schlechten Absichten zu hegen. Im Grunde genommen hielt sie die Vorstellung für absurd, daß er eine Gefahr für sie darstellen konnte. Andererseits: In den Zeitungen und übrigen Nachrichtenmedien wurde häufig von wahnsinnigen Massenmördern berichtet, die Freunde, Familienangehörige und Kollegen niedermetzelten und von erstaunten Nachbarn als eigentlich ganz nett beschrieben worden waren. Jim Ironheart behauptete, der Beauftragte Gottes zu sein, und er riskierte sein Leben, um Fremde zu retten - doch vielleicht neigte er des Nachts dazu, kleine Katzen mit sadistischer Freude zu quälen.
Dennoch verzichtete Holly nicht auf den Rest des Biers. Als sie sich mit dem sauber riechenden Frotteehandtuch abgetrocknet hatte, griff sie wieder nach der Flasche Corona und trank einen Schluck. Ein langer, traumloser und erholsamer Schlaf lohnte ihrer Ansicht nach das Risiko, im Bett ermordet zu werden.
Sie zog den Pyjama an und rollte Beine und Ärmel hoch.
Dann nahm sie die Flasche - sie enthielt noch einen oder zwei Schluck Bier -, öffnete leise die Badezimmertür und trat in den Flur des Obergeschosses. Gespenstische Stille herrschte im Haus.
Als sie zur Treppe ging, kam sie an Ironhearts Schlafzimmer vorbei und warf einen Blick hinein. Zu beiden Seiten des Bettes waren aus Messing bestehende Leselampen befestigt, und eine von ihnen warf einen schmalen Keil aus bernsteinfarbenem Licht auf das zerknitterte Laken. Jim lag auf dem Rücken, Hände und Arme unter den beiden Kopfkissen; er schien noch wach zu sein.
Holly zögerte, gab sich einen Ruck und trat durch die offene Tür. »Danke«, sagte sie und sprach leise, für den Fall, daß er doch schon schlief. »Jetzt fühle ich mich viel besser.«
»Freut mich für Sie.«
Holly blieb so dicht vor dem Bett stehen, daß sie beobachten konnte, wie sich das Lampenlicht in Ironhearts blauen Augen widerspiegelte. Die Decke reichte ihm bis zum Nabel, aber er trug keine Schlafanzugjacke. Brust und Arme waren schlank und muskulös.
»Ich dachte, Sie wollten nach fünf Minuten fest eingeschlafen sein.«
»Das war meine Absicht. Aber leider kann ich die Gedanken nicht einfach abschalten.«
Holly sah auf ihn hinab. »Viola Moreno meinte, tiefe Trauer wohnt in Ihnen.«
»Sie sind bei Ihren Ermittlungen ziemlich gründlich vorgegangen, nicht wahr?«
Holly trank einen Schluck Corona - noch einer übrig - und nahm auf der Bettkante Platz. »Haben Ihre Großeltern noch immer die Farm mit der Mühle?«
»Sie sind tot.«
»Tut mir leid.«
»Großmutter starb vor fünf Jahren, Großvater acht Monate später - als sei das Leben ohne sie sinnlos für ihn. Sie hatten viele ausgefüllte Jahre hinter sich. Ich vermisse sie sehr.«
»Haben Sie Verwandte?«
»Zwei Cousins in Akron«, antwortete Jim.
»Stehen Sie miteinander in Verbindung?«
»Schon seit zwanzig Jahren nicht mehr.«
Holly trank den Rest Bier und stellte die leere Flasche aufs Nachtschränkchen.
Einige Minuten lang sprach niemand von ihnen. Die Stille war nicht etwa unbehaglich, sondern angenehm.
Schließlich stand Holly auf, ging ums Bett herum, zog die Decke zurück, streckte sich neben Jim aus und legte den Kopf auf die anderen beiden Kissen.
Ironheart schien ebensowenig überrascht zu sein wie sie selbst.
Nach einer Weile faßten sie sich an den Händen, lagen Seite an Seite und starrten zur Decke hoch.
»Es muß dich hart getroffen haben, als Zehnjähriger deine Eltern zu verlieren.« Holly ging zum Du über; unter den gegenwärtigen Umständen erschien ihr das Sie nicht mehr angemessen.
»Ja.«
»Was geschah damals?«
Er zögerte kurz. »Ein Verkehrsunfall.«
»Und anschließend hast du bei deinen Großeltern gelebt?«
»Ja. Das erste Jahr war am schlimmsten. Es … ging mir nicht besonders gut. Verbrachte viel Zeit in der Mühle. Sie gewann eine ganz besondere Bedeutung für mich. Ich spielte dort, zog mich in sie zurück, wenn ich … allein sein wollte.«
»Ich wünschte, wir wären als Kinder zusammen gewesen«, sagte Holly.
»Warum?«
Sie dachte an Norby, jenen Jungen, den sie im Flugzeug gerettet hatte. »Dann hätte ich dich kennengelernt, bevor deine Eltern starben. Dann wüßte ich heute, wie du damals gewesen bist, unberührt von der Tragödie.«
Neuerliches Schweigen folgte diesen Worten.
Als Jim sprach, war seine Stimme so leise, daß sich Holly anstrengen mußte, um ihn trotz ihres laut pochenden Herzens zu verstehen. »Tief in ihrem Innern
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