Die Kälte Des Feuers
zwanzig Prozent des Ortes stammten direkt aus dem nostalgischen Mittelwesten eines Bradbury-Romans, doch der Rest hätte sich bestens als Kulisse für einen David-Lynch-Film geeignet.
»Ich schlage vor, wir machen eine kleine Besichtigungstour«, sagte Jim.
»Wir sollten zur Farm fahren.«
»Sie befindet sich nördlich von hier und ist nur zwei Meilen entfernt. Wir erreichen sie innerhalb weniger Minuten.«
Für Holly war das ein Grund mehr, die Fahrt fortzusetzen. Sie hatte es satt, im Wagen zu sitzen.
Offenbar wollte ihr Jim aus irgendeinem Grund den Ort zeigen; es ging ihm nicht nur darum, die Ankunft auf der Ironheart-Farm zu verzögern. Holly erhob keine Einwände, sondern hörte ihm sogar interessiert zu. Sie wußte inzwischen, daß es ihm recht schwerfiel, über sich selbst zu sprechen, und manchmal gab er persönliche Dinge indirekt oder in einem anderen Zusammenhang preis.
Er fuhr an Handahls Apotheke am östlichen Ende der Main Street vorbei; dort kaufen die Einheimischen rezeptpflichtige Arzneien, wenn sie nicht zwanzig Meilen bis nach Solvang fahren wollten. Den Handahls gehörte auch eins der beiden Restaurants in New Svenborg, und Jim meinte, dort gebe es >die beste Eisbar seit 1955<. Gleichzeitig diente das Gebäude als Postamt und einziger Zeitungsstand. Er wirkte beeindruckend. Holly beobachtete mehrere Firste und Giebel, ein kupfernes Kuppeldach, das Grünspan angesetzt hatte, und Fenster aus geschliffenem Glas.
Jim ließ den Motor laufen, als er vor der Bibliothek an der Copenhagen Lane parkte. Sie befand sich in einem der kleineren viktorianischen Häuser, das weitaus weniger Ornamente aufwies als die anderen. Es war frisch gestrichen, und die Büsche und Sträucher an den Seiten erweckten einen gutgepflegten Eindruck. Am Bürgersteig ragte eine sehr hohe Messingstange auf, und daran hingen sowohl die Fahne der Vereinigten Staaten als auch die Kaliforniens. Trotzdem schien es sich um eine sehr kleine und alles andere als vollständige Bibliothek zu handeln.
»In einem so winzigen Ort erwartet man eigentlich gar keine«, sagte Jim. »Damals war ich sehr dankbar dafür. Als Junge bin ich oft mit dem Fahrrad zur Bibliothek gefahren. Meine Güte, wenn man all die Meilen addiert, bin ich vermutlich um die halbe Erde geradelt. Nach dem Tod meiner Eltern erfüllten Bücher die Funktion von Freunden, Gesprächspartnern und Psychiatern. Bücher bewahrten mich davor, einfach überzuschnappen. Mrs. Glynn, die Bibliothekarin, war eine großartige Frau. Sie wußte ganz genau, wie man mit einem schüchternen, deprimierten Kind reden muß, ohne es von oben herab zu behandeln. Sie führte mich in die exotischsten Regionen der Welt, erlaubte mir, Abenteuer in längst vergangenen Epochen zu erleben - ohne dieses Gebäude verlassen zu müssen.«
Holly hörte jetzt zum erstenmal so liebevolle und schwärmerische Wort von Jim. Die Svenborg-Bibliothek und Mrs. Glenn schienen einen guten und entscheidenden Einfluß auf sein Leben ausgeübt zu haben.
»Warum gehen wir nicht rein und sagen ihr guten Tag?« schlug Holly vor.
Jim runzelte die Stirn. »Oh, ich bin sicher, daß sie nicht mehr als Bibliothekarin arbeitet. Vermutlich ist sie längst tot. Vor fünfundzwanzig Jahren begann ich damit, mir hier Bücher auszuleihen, und vor achtzehn Jahren verließ ich den Ort, um das College zu besuchen. Seitdem habe ich sie nie wiedergesehen.«
»Wie alt war sie?«
Er zögerte. »Ziemlich alt«, antwortete er und beendete den nostalgischen Ausflug in die Vergangenheit, indem er den ersten Gang einlegte und losfuhr.
Kurze Zeit später erreichten sie die sogenannten Tivoli-Gärten, einen kleine Part an der Ecke Main und Copenhagen, der seinem hochtrabenden Namen nicht einmal annähernd gerecht wurde - keine Springbrunnen, keine Musiker, kein Tanz, keine Spiele, nicht einmal Bierstuben. Nur einige Rosen und Sommerblumen, kleine Rasenflächen und zwei Parkbänke; in der fernen Ecke eine guterhaltene Windmühle.
»Warum drehen sich die Flügel nicht?« fragte Holly. »Es weht eine leichte Brise.«
»Die hiesigen Mühlen pumpen weder Wasser noch mahlen sie Korn«, erklärte Jim. »Da sie vor allen Dingen dekorativen Zwecken dienen, hat es keinen Sinn, mit den von ihnen verursachten Geräuschen zu leben. Man hat die Mechanismen schon vor langer Zeit blockiert.« Als sie am Ende des Parks abbogen, fügte er hinzu: »Hier wurde einmal ein Film gedreht.«
»Von wem?«
»Von einem der großen
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