Die Kälte Des Feuers
CNN-Reporter Anlock reagiert. Sie verachtete ihn, und auf einer unterbewußten Ebene regte sich gleichzeitig ein Gefühl der Schuld: Er sammelte Material für eine wichtige Story, die sie ignorierte, obgleich sie Teil davon war. Als Journalistin hätte sie ihre Mitreisenden interviewen und rasch einen Artikel für den Kurier schreiben sollen. Doch sie verspürte keinen solchen Wunsch, nicht einmal für einen Sekundenbruchteil, nahm statt dessen den groben Stoff ihrer unbewußten Verachtung und schneiderte daraus ein Gewand des Zorns, mit breiten Schultern und großen Aufschlägen. Sie streifte es über, posierte darin zornig vor der CNN-Kamera und versuchte zu vergessen, daß der Journalismus überhaupt keinen Reiz mehr auf sie ausübte, daß sie ihre bisherige berufliche Laufbahn aufgeben und sich damit von etwas abwenden wollte, von dem sie sich bisher Erfüllung für ihr Leben erhofft hatte.
Holly konnte nicht mehr still sitzen, stand auf und wanderte unruhig umher.
Sie war keine Reporterin mehr.
Sie wiederholte diese Worte in Gedanken: Ich bin keine Reporterin mehr.
Freiheit. Als Kind einfacher Eltern aus der Arbeiterklasse war sie regelrecht davon besessen gewesen, sich wichtig zu fühlen und ein Insider zu werden. Als intelligentes Mädchen, das zu einer noch intelligenteren Frau heranwuchs, fühlte sie sich vom offensichtlichen Chaos des Lebens verwirrt und hielt es für notwendig, es mit den unzureichenden Werkzeugen des Journalismus so gut wie möglich zu erklären. Die gleichzeitige Suche nach Anerkennung und Erklärungen hatte sie dazu veranlagt, siebzig oder achtzig Stunden pro Woche zu studieren und zu arbeiten. Doch die späteren Konsequenzen bestanden darin, daß sie nirgendwo Wurzeln schlug, ohne einen Partner blieb, ohne Kinder und ohne echte Freunde. Darüber hinaus suchte sie vergeblich nach Antworten auf ihre schwierigen Fragen, die sich um den Sinn des Lebens drehten. Jetzt hatte sie endlich die Fesseln ihrer Besessenheit abgestreift. Es spielte keine Rolle mehr, ob sie zu einer elitären Gruppe gehörte oder nicht; es war nicht mehr notwendig, die manchmal recht sonderbaren Verhaltensmuster der Menschen zu erklären.
Zunächst glaubte sie, den Journalismus zu hassen, aber das stimmte nicht. Sie haßte in erster Linie ihr Versagen als Reporterin. Und ihr Versagen gründete sich auf die Tatsache, daß sich der Journalismus nie für sie geeignet hatte.
Um sich selbst zu verstehen und die Ketten der Angewohnheit zu zerreißen, genügte es, ein schreckliches Flugzeugunglück zu überleben - und einen Mann kennenzulernen, der Wunder bewirkte.
»Was bist du doch für eine flexible Frau, Thorne«, sagte sie laut und verspottete sich selbst. »So einsichtig.«
Lieber Himmel! fuhr es ihr durch den Sinn. Wenn es wirklich ausreichte, Jim Ironheart zu begegnen und ein brennendes Flugzeug lebend zu verlassen, um endlich das Licht zu sehen und zu verstehen - vermutlich hätte ich das gleiche Ziel erreicht, wenn ich bereit gewesen wäre, mit einem guten Psychologen zu sprechen. Verdammt, warum ist es manchmal so schwer, sich dem Offensichtlichen zu stellen?
Holly lachte. Sie zog die Decke vom Bett, schlang sie um ihren nackten Leib und nahm in einem der beiden Sessel Platz. Sie streckte die Beine aus und lachte erneut, so laut wie ein fröhlicher, unbeschwerter Teenager.
Halt. Augenblick. Genau dort begann das Problem: Sie war nie ein fröhlicher, unbeschwerter Teenager gewesen. Unerschütterlicher Ernst begleitete die ersten Jahre ihrer Jugend. Sorgen erfüllten sie: über den dritten Weltkrieg, weil es hieß, daß sie mit ziemlicher Sicherheit im atomaren Inferno sterben würde, noch bevor sie die Schule verließ; über das viel zu starke Bevölkerungswachstum, weil es hieß, eine Hungersnot würde bis zum Jahre 1990 anderthalb Milliarden Opfer verlangen, die Hälfte aller Menschen auf der Erde umbringen und selbst in den Vereinigten Staaten schwere Verheerungen anrichten; über die Umweltverschmutzung, die den Planeten stark abkühlte, eine neue Eiszeit verursachte und die Zivilisation damit in wenigen Jahren zerstörte - diese Befürchtungen machten in den siebziger Jahren Schlagzeilen, bevor man den Treibhauseffekt entdeckte und feststellte, daß eher eine allgemeine Erwärmungsphase bevorstand. Holly hatte ihre Jugend und ersten Jahre als Erwachsene damit verbracht, sich zu viele Sorgen zu machen und sich zuwenig zu vergnügen. Ohne Freude verlor sie die Perspektive fürs Leben und konzentrierte
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