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Die Kaempferin

Die Kaempferin

Titel: Die Kaempferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Palmatier
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dem Trauben, Wistarien und andere Kletterpflanzen auf den Pfad herabhingen, über den es sich spannte. Außerdem konnte ich einen Teil des Hafens und der Schiffe sehen. Das Wasser wirkte heller als in Amenkor. Zahlreiche Schiffe aller Größen lagen dort vor Anker, mit unterschiedlicher Mastanzahlund verschiedenen Segeln, von dreieckig bis quadratisch. Alle wogten in der Brise auf dem Wasser.
    Die Stadt war mindestens doppelt so groß wie Amenkor. Die Gebäude erschienen mir prunkvoller, und im Hafen herrschte mehr Betrieb. Während Amenkor ein Knotenpunkt war, ein Ort, an dem sich jene trafen, die auf dem Weg nach oder aus Kandish die Berge überquerten – und ein Zwischenhalt für Reisende auf den Straßen, die entlang der Küste verliefen –, bildete Venitte den Dreh- und Angelpunkt des Handels über den Meeresweg. Alle wahren Händlergilden waren hier vertreten und beherrschten den gesamten Handel mit den südlichen Inseln und mit dem Norden, bis hinauf zu den eisigen Gefilden von Taniece.
    Ich ließ den Blick über dies alles schweifen und schaute dann auf die »Ehrengarde« der Protektoren mit ihren geflügelten Helmen und den Wappenröcken mit der goldenen Weizengarbe auf blutrotem Hintergrund, die das Anwesen umstanden und nur Alonse und dessen Dienerschaft durchs Tor hinausließen. Selbst William ließen sie nicht mehr aus den Mauern, seit er in jener ersten Nacht Fürst Sorrenti geholt hatte.
    »Ihre Häuser werden anhand von Vögeln bestimmt«, erklärte Avrell hinter mir und setzte den Unterricht fort, der schon an Bord des Schiffes auf dem Weg hierher begonnen hatte. »Das Sorrenti-Wappen ist der Reiher, das der Boradarns der Kranich. Die Casari verwenden den Fischreiher …«
    »Warum ist er nicht gekommen?«, unterbrach ich ihn.
    Ein kurzes Zögern, dann ein Seufzen. »Ich weiß es nicht.«
    Ich wandte mich vom Fenster und der warmen Brise ab, die vom Hafen herüberwehte. »Wir sind seit zwei Tagen in diesem Haus eingesperrt und haben noch kein Wort von Fürst March gehört … oder von sonst jemandem, was das angeht. Catrell lässt seine Verärgerung an den Männern aus und schindet sie fast ohne Unterbrechung auf dem Übungshof. Westen macht dasselbe mit seinen Suchern an einem weniger auffälligen Platz. Wir alle sind ruhelos. Also, wo ist Fürst March?«
    Avrell verlagerte das Gewicht auf seinem Stuhl, doch ehe er antworten konnte, keuchte Erick.
    Isaiah sprang von dem Schreibpult auf, den er ins Zimmer gebracht hatte, und erreichte Erick einen Augenblick vor mir. William folgte einen Schritt hinter mir.
    Als Erstes sah ich, dass Erick die Augen geöffnet hatte.
    »Varis«, stieß er hervor, die Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Seine Augen – die kalten, abwägenden Augen eines Suchers – blickten suchend umher und hefteten sich auf mich.
    Erleichterung stürzte in einer überwältigenden Woge auf mich herab und drohte mich zu zerdrücken, so plötzlich und unerwartet, dass ich keine Zeit hatte, mich zu wappnen. Tränen stiegen mir in die Augen und strömten brennend über mein Gesicht. Als ich nach Ericks Hand griff, erkannte ich, dass ich schluchzte und mir der Atem in der Brust stockte. Ich wischte mir Rotz von der Nase und Tränen aus den Augen.
    Für lange Zeit gab es nur Erick, seine Augen, die Narben in seinem Gesicht, sein zittriges Lächeln, und ich war wieder vierzehn, gefangen am Siel, Abschaum, nicht mehr die Regentin. Dass ich weinte, spielte keine Rolle mehr. Ich spürte, wie Avrell und Isaiah respektvoll, aber widerwillig zurückwichen, während William sich vorbeugte und mich tröstend an der Schulter berührte.
    Langsam verschwand die erdrückende Woge, und auch das schmerzliche Stocken in meiner Brust zog sich zurück und hinterließ eine Pein, die schlimmer war als alles, was ich zuvor erlebt hatte.
    Während ich Ericks Hand fest umklammerte, sagte ich: »Ich hätte dich beinahe getötet.« Das Geständnis rief neuerliche Tränen hervor, und der Schmerz in meiner Brust verdoppelte sich. Doch ich hielt Ericks Hand fest, war dankbar für ihre Wärme. Ebenso dankbar wie für William, der mittlerweile an meine Seite getreten war.
    »Pssst, Varis. Ich weiß.« Erick hustete. Es war ein schmerzlichanzuhörender Laut, doch er lächelte matt. »Ich habe dich darum gebeten, schon vergessen?«
    Ich lachte, und es klang halb erstickt.
    Isaiah trat vor und hüstelte. »Ich denke, das ist fürs Erste genug Anstrengung gewesen.« Sein strenger Tonfall zeugte von Missbilligung.
    Ich

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