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Die Kaffeemeisterin

Die Kaffeemeisterin

Titel: Die Kaffeemeisterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helena Marten
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betrittst ein Haus. Und du gehst von einem Zimmer zum anderen, und in jedem holst du ein Stückchen von deiner Geschichte ab. Wenn du alle Räume durchschritten hast, ist die Geschichte zu Ende erzählt, und du gehst wieder aus dem Haus heraus.«
    Justus hatte neben sich auf einem Höckerchen eine große Sanduhr aufgestellt. Als diese ein Mal durchgelaufen war, hörte er auf zu lesen, genau an der Stelle, an der Aladin die schöne Prinzessin Badroulboudour zum ersten Mal sieht.
    Während ihre Gäste sich auf das Büfett mit den orientalischen Köstlichkeiten stürzten, lief Johanna schnell in die obere Etage, um sich für ihre Rolle als Scheherazade fertig zu machen. Zum krönenden Schluss legte sie noch einen perlenbestickten Schleier über ihr Gesicht, sodass nur noch ihre schwarz umrandeten Augen zu sehen waren.
    U nd hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, hochverehrtes wertes Publikum, liebe Zuhörer, liebe Kinder« – kündigte Justus’ dröhnende Stimme sie nach der Pause den Gästen an – »ist nun eigens aus Konstantinopel für Sie angereist die wunderbare, unvergleichliche und rätselhafte Scheherazade. Die klügste und schönste Frau des ganzen Morgenlandes. Lassen Sie sich von ihr verzaubern und entführen! Bitte Applaus, meine Damen und Herren …«
    Johanna ließ sich neben ihm auf dem kleinen Bänkchen nieder und schlug mit einer dramatischen Geste ihren Schleier zurück. Ein Raunen ging durch die Menge, als wären die Leute tatsächlich überrascht, dass sie, Johanna, es war, die dort vor ihnen saß. Sie räusperte sich, um das Kratzen in ihrem Hals loszuwerden.
    »Wird schon schiefgehen!«, flüsterte ihr Justus so laut ins Ohr, dass man ihn auch in den ersten Reihen noch gut hören konnte.
    Prompt brach seine Schwester in lautes Gelächter aus und fing sich ein tadelndes »Pscht!« von Henriette Schley ein.
    » I ch möchte die Geschichte meiner Abenteuer im Orient mit der Schilderung des Schicksals einer der faszinierendsten Gestalten beginnen, die ich im Harem getroffen habe …«
    Johanna bemühte sich, ihre Stimme möglichst laut klingen zu lassen, um das Gehüstel im Publikum, das Klirren der Gläser und Tassen, das vereinzelte Schmatzen und Rascheln zu übertönen. Sie veränderte ihre Haltung leicht, in der Hoffnung, dadurch mehr Stimmvolumen zu erzeugen. Von der Gasse her schallte ein wildes Peitschenknallen über das Hoftor, das sie aber ignorierte, indem sie tapfer fortfuhr:
    »Dazu müssen Sie wissen, meine Damen und Herren, dass der Harem, ja der ganze Serail voll ist von faszinierenden Gestalten! Die Haremsdame Mihrimâh, eine gebürtige Abchasin vom Schwarzen Meer und Favoritin des Sultans, übertrifft sie jedoch alle. Ihre Geschichte ist so traurig und doch so schön, denn sie war unbändig verliebt in einen Fischer aus Üsküdar, den sie mit einem Fernrohr beobachtete, wenn sie im Rosengarten des Harems spazieren ging. Jeden Abend um die gleiche Zeit lief der junge Hüseyin zum Fang auf einem kleinen Nachen aus. Irgendwann fiel ihm auf, dass stets, wenn er am Palast des Sultans vorbei hinaus auf das Marmarameer segelte, am Ufer etwas in der Abendsonne blitzte. Er schilderte das seltsame Phänomen seinen Freunden, den anderen Fischern, mit denen er sich im Kaffeehaus meiner guten Freundin Fatma zu treffen pflegte. Dort verkehrte auch Rifat, der Hofastronom des Padischah, und der konnte ihm eines Tages die Antwort geben. ›Jemand beobachtet dich aus den Haremsgemächern heraus mit einem Fernrohr, das sich in der untergehenden Sonne spiegelt‹, erklärte er dem erstaunten Hüseyin.«
    Johanna, die versucht hatte, ihre Stimme bei der Rede des Hofastronomen besonders tief klingen zu lassen, musterte unauffällig die Reihen der vor ihr sitzenden Menschen. Kein einziges gelangweiltes Gesicht, dachte sie beruhigt, im Gegenteil, die Leute schienen wie gebannt an ihren Lippen zu hängen. Beherzt fuhr sie fort:
    »Der Fischer, ein stattlicher Jüngling mit lockigem Haar, wurde von einer ihm bis dahin völlig fremden Erregung erfasst. Obwohl er gar nicht wissen konnte, wer ihn da beobachtete, verlor er sein Herz an die unbekannte Haremsdame und redete von nichts anderem mehr als von dem geheimnisvollen Leuchten, das er Abend für Abend herbeisehnte und das sich tatsächlich jedes Mal treu und brav zur fraglichen Stunde zeigte. ›Kann doch auch eine hässliche Alte ohne Zähne sein‹, nahmen ihn seine Freunde auf den Arm. Aber Hüseyin ließ sich nicht beirren. Er war fest davon

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