Die Kaffeemeisterin
unbefangen.
»Eine Sonate, die ich in Italien komponiert habe.«
»Das war sehr schön«, wiederholte sie noch einmal.
Wie einfallsreich von ihr! Konnte sie nicht etwas origineller sein? Johanna starrte auf das Revers des jungen Mannes, aus dessen Stickerei ein paar Fäden heraushingen.
»Die Sonne schien, und ich habe aufs Meer geblickt, während ich das Stück komponiert habe. Da kamen die Töne fast von allein.«
Immer noch lächelte er und schaute sie unverwandt aus seinen dunklen Augen an.
Hilfe!, dachte sie noch einmal. Wann war sie zum letzten Mal von einem Mann so angelächelt worden? Wann hatte sie jemals weiche Knie bekommen, nur weil ein Mann sie ansah?
»Frau Berger ist die Wirtin der Coffeemühle am Markt«, schaltete sich nun Jehuda ein.
Johanna hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie fühlte sich plötzlich alt und hässlich. Ausgerechnet heute hatte sie eine kleine Entzündung am linken Mundwinkel. Warum war sie nur aus dem Haus gegangen, ohne sich ein wenig zurechtzumachen? Dazu war sie noch in dieses Gedränge geraten, und eine Schlaufe an ihrem Kleid war abgerissen.
»Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Frau Berger. Ich muss jetzt leider los, ich unterrichte die Töchter von Mosche Bär.«
Er zog die rechte Hand aus seiner Rocktasche und streckte sie ihr entgegen.
»Mich auch«, hörte sich Johanna wie aus weiter Ferne antworten.
Gabriel Stern griff mit der linken Hand nach seinem Geigenkasten, hob die rechte noch einmal grüßend und schob mit dem Fuß die Ladentür auf. Sie konnte nichts tun, um ihn aufzuhalten. Ob sie ihn jemals wiedersehen würde?
»Wo waren wir stehengeblieben?«, erklang hinter ihr Jehudas Stimme.
Gewaltsam riss Johanna ihren Blick von der ins Schloss fallenden Tür. Ganz langsam drehte sie sich um.
»Ich schicke Schosch mit der Schubkarre, um den Kaffee zu holen«, sagte sie mechanisch. Der fahle Klang ihrer Stimme brachte sie wieder zur Besinnung. »Wir nehmen ein Fass mehr als sonst«, beeilte sie sich hinzuzufügen. »Wegen des Damensalons.«
Endlich hatte sie wieder Gewalt über sich. Ihr war weniger heiß, und sie fühlte sich nicht mehr wie eine Pusteblume im Wind.
Jehuda kam hinter seinem Tisch hervor und öffnete die Ladentür für sie.
»Was für ein schöner Tag!«, sagte er und sog tief die kühle Luft ein.
Als hegte er einen Verdacht, sah er streng eine zerlumpte Frau an, die sich, eine Kerze in der Hand, über den großen Kerzenkorb vor seinem Laden gebeugt hatte und an dem Wachs schnupperte.
»Auf Wiedersehen, Jehuda, vielen Dank!«, verabschiedete sich Johanna.
»Auf Wiedersehen, Frau Johanna! Und maselto v !«
Der Krämer ließ die Bettlerin mit der Kerze nicht aus den Augen.
Die Vögel zwitscherten um die Wette, als Johanna auf die Gasse trat. Man konnte den Frühling schon spüren, obwohl es noch so kalt war. Auch war es zum Glück schon wieder länger hell. Der schlimmste Teil des Winters lag hinter ihnen.
Das Treiben im Getto hatte sich gelegt. Ein paar Mädchen spielten Himmel und Hölle . Mit Kreide hatten sie die hebräischen Zahlen auf das Pflaster gemalt.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn!«, grölten die Kinder, während das älteste Mädchen mit hochgerafftem Rock auf einem Bein von einem Kästchen in das nächste sprang.
Aus einem Haus, dessen Schlussstein über der Haustür einen Bären zeigte, erklangen kratzige Geigentöne, offenbar von den Schülerinnen des jungen Stern. Am liebsten hätte sich Johanna die Ohren zugehalten. Die Töchter von Mosche Bär würden wohl noch lange üben müssen, um wohlklingende Töne zu erzeugen.
Langsam lief sie an dem Haus vorbei und überquerte das Judenbrückchen. Als sie wenig später in die Schnurgasse einbog, lief sie mitten in einen glühenden Sonnenuntergang hinein. Es war, als stände der Himmel in Flammen. Der letzte noch sichtbare Rest der Sonne blendete sie so, dass sie die Augen zusammenkneifen musste. Kleine rosa angeleuchtete Wölkchen schwebten von Westen her über die Häuserdächer. Sie erreichte die Hasengasse und sah auf der anderen Seite der Stadt den Mond aufgehen. Dick und voll stand er über dem Main.
Das Bild des jüdischen Geigers erschien ihr plötzlich vor Augen, so plastisch, als stünde er leibhaftig neben ihr. Was war bloß mit ihm, dass er sie so beeindruckt hatte?, fragte sich Johanna. War es die Musik gewesen, die er gespielt hatte, dieser süße, verlockende Klang? Oder hatte der Duft von Jehudas
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