Die Kaffeemeisterin
Kaffeebohnen ihr einfach nur die Sinne vernebelt? Sie konnte die farbenfrohen Stoffe, die der Krämer vor ihr ausgebreitet hatte, noch unter den Fingern spüren, die samtige Textur des Brokats, die kühle Seide, die zarten Spitzen. Wie sich die Haut des jungen Stern wohl anfühlen mochte?
Plötzlich spürte sie einen Widerstand an ihrem Fuß. Sie konnte gerade noch ihr Gleichgewicht halten, sonst wäre sie über den kleinen, dicken Hund gestolpert, der wie aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht war. Das Tier schaute sie aus seinen triefenden Augen an, als wäre sie an seinem ganzen Elend schuld. Es gab einen japsenden Laut von sich und rannte davon.
Geistesabwesend blickte Johanna dem Straßenköter nach. Was für Gedanken sie da auf einmal hegte! Jeden Tag kam sie mit Dutzenden von Männern zusammen, und nie hatte sie auch nur eine Sekunde lang über die Beschaffenheit ihrer Haut nachgedacht. Sie schüttelte den Kopf. Völlig verrückt! Noch dazu war dieser Geiger viel jünger als sie. Und vor allem war er Jude.
5. KAPITEL
L aut klappernd knallte der Fensterladen gegen die Mauer. Johanna befestigte den Haken an der Wand und rieb fröstelnd ihre kalten Hände.
»Guten Morgen, Witwe Berger!«, grüßte der Nachtwächter, der mit seiner Laterne in der Hand nach Hause eilte.
Noch war es dunkel, doch das Leben in der Stadt erwachte allmählich. Die ersten Vorboten der Dämmerung zeigten sich, schon hatte die Dunkelheit von ihrem tiefschwarzen Stadium ins lichtere Dunkelblau gewechselt. Eine gute Woche war seit Johannas Besuch bei Jehuda ben Abraham vergangen.
Johanna entschied sich, die anderen Fensterläden erst im Laufe des Tages aufzuklappen, wenn es etwas wärmer geworden war. Gestern hatten sie bis auf zwei Fensterläden alle geöffnet. Nur die großen Öffnungen zum Markt hin waren mit Glasscheiben versehen, das hatte sich Adam in einem besonders guten Jahr geleistet. Die bis zum Boden gehenden Öffnungen zur Langschirne hin waren dagegen nur durch die Fensterläden geschützt. Sie konnten auch mal wieder einen neuen Anstrich vertragen, dachte Johanna seufzend. Aber vielleicht würde es heute warm genug werden, um auch diese Läden zu öffnen.
Zurück in der Stube, nahm sie den Schürhaken und begann die Asche vom Vorabend aus dem Herd zu entfernen. Dann streute sie ein wenig Reisig aus einer großen, neben dem Herd stehenden Kiste in die Herdklappe und hielt den Kienspan daran. Sie wartete einen Augenblick, bis die kleinen Zweige zu ihrer Zufriedenheit brannten, und schob dann vorsichtig ein Holzscheit auf die jungen Flammen. Schließlich goss sie Wasser in einen Topf und stellte ihn auf den Herd.
Draußen rollte jemand rumpelnd ein Fass vorbei. Vor der Spezereiwarenhandlung schräg gegenüber kam ein Mann zu stehen, der einen hoch beladenen Karren an der Deichsel vor sich her geschoben hatte. Sie hörte im Stockwerk über sich Schritte und hoffte, dass sie den Morgen noch einen Moment für sich haben würde. Der erste Kaffee war für sie eine Art heilige Messe. Am liebsten genoss sie ihn ganz für sich allein, bevor der Trubel losging. Und jetzt, mitten in der Frühjahrsmesse, war das Haus bis unter das Dach voll mit Gästen. Anne und Sybilla waren sicher schon in den oberen Etagen zugange, weckten die Mädchen und machten die Betten. Schosch war ein Langschläfer, aber so spät wie er zu Bett ging, gönnte sie ihm auch seinen Schlaf. Gleich wür den die bestellten Wäscherinnen für die große Wäsche kommen.
Während sich das Wasser auf dem Herd erhitzte, lief sie in die Vorratskammer und schob den Deckel von einem der großen Fässer zur Seite, die Schosch bei Jehuda abgeholt hatte. Sofort stieg ihr wieder der frische Duft von süßen Pfirsichen in die Nase, den die grünen Bohnen verströmten. Sie tauchte mit einer Hand in das Fass. Hm, wie gut sich das anfühlte, so glatt und zart! Immer wieder ließ sie die kleinen, körnigen Bohnen durch ihre Hände rieseln. Am liebsten hätte sie ein Bad darin genommen. Hatten sie jemals eine solche Qualität gehabt? Natürlich war die Ware, die sie bestellte, immer erlesen, aber diese neue Ernte aus dem äthiopischen Hochland stand weit über dem sonstigen Niveau ihres Kaffees.
Sie musste unwillkürlich wieder an ihren Besuch bei Jehuda vor einigen Tagen denken. Und an ihre Begegnung mit dem Geiger, Gabriel Stern. Warum nur hatte er einen derartigen Eindruck bei ihr hinterlassen? Es musste die Musik gewesen sein, sagte sie sich, die Musik hatte sie in diese
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