Die Kaffeemeisterin
christlichen Lokal aufgetreten war, glaubte sie nicht wirklich. Doch man wusste es nicht. Auf Ludwig Haldersleben, der ihr deutlich genug zu verstehen gegeben hatte, dass er Bescheid wusste, meinte sie sich verlassen zu können. Ännchen hingegen schien nichts mitbekommen zu haben, zumindest hoffte sie das inständig.
Und wenn Gottfried Hoffmann wieder zuschlagen würde? Eine Welle von Panik stieg in ihr auf. Wenn Gottfried Hoffmann Gabriel etwas antäte, das würde sie sich nie verzeihen! Ihretwegen hatte der Geiger sich in Gefahr begeben, ihretwegen war er schwer verletzt worden … Nein, sie durfte nicht mehr darüber nachdenken. Weder über die Schwere von Gabriels Verletzung noch über die Gefahr, die ihm womöglich durch Hoffmann oder die Polizei drohte. Überhaupt: Sie musste sich diesen Mann ein für alle Male aus dem Kopf schlagen! Er hatte sie tief berührt, in jeder Hinsicht, aber nun lagen bestimmt tausend Meilen zwischen ihnen, die zu all dem, was ohnehin schon zwischen ihnen stand – sein Judentum und ihr Status als ehrbare Geschäftsfrau, als Witwe und Mutter zweier Stieftöchter –, noch hinzukamen. Tausend Meilen, dachte sie, je weiter weg, desto besser. Aus den Augen, aus dem Sinn, so sagte man doch. Vielleicht gelang es ihr ja auf diese Weise, ihn zu vergessen …
»Siamo quasi arrivati, Signora« , schreckte der Gondoliere sie aus ihren Gedanken hoch. »Wo darf ich Sie hinbringen, nach Cannaregio oder woandershin?«
»Piazza San Marco, per favore« , erwiderte Johanna.
Sie war sich zwar nicht sicher, ob der junge Mann sie wirklich nach ihrer Destination gefragt hatte, aber so ganz falsch würde sie mit ihrer Antwort schon nicht liegen. Welch ein Glück, dass sie von ihren italienischen Gästen ein paar Brocken dieser schönen Sprache aufgeschnappt hatte, um sich halbwegs durchschlagen zu können!
Sie fühlte sich wie in einem Traum. Schon die ungewohnten Geräusche um sie herum versetzten sie in eine andere Welt: das plätschernde Wasser, das sanfte Eintauchen des Ruders in die Fluten, der weiche Aufprall der Wellen an den marmornen Fundamenten der alten Paläste. Und dann der kehlige Gesang des Gondoliere, der wieder eingesetzt hatte und sich mit dem seiner Kollegen vermengte, welche in ihren Barken an ihnen vorüberzogen!
Johanna bekam den Mund kaum mehr zu vor Staunen. So eine Pracht hatte sie noch nie gesehen. Wie Perlen an einer Kette folgte ein palazzo auf den anderen entlang des Kanals, der ihr ungeheuer breit vorkam. Die Fassaden der Paläste sahen aus wie die von Elisabeth geklöppelte weiße Spitze. Über die schmalen Brücken ohne Geländer eilten Menschen, die offenbar nicht darüber nachdachten, dass jeder kleinste Fehltritt sie unweigerlich im Wasser würde enden lassen. Eine solche Geschäftigkeit hatte sie nur während der Messe in Frankfurt erlebt. Auf dem Canal Grande ging es zu wie auf der Fahrgasse zu den Stoßzeiten.
Dass es ihr in Venedig gefallen würde, das spürte Johanna schon jetzt, als die Gondel langsam über das seichte Wasser des Kanals glitt. Sie bemerkte die neugierigen Blicke der Männer auf den Lastkähnen, die ihnen entgegenkamen, aber sie beschloss, sich nicht daran zu stören. Stattdessen ließ sie selbst ihre Blicke umherschweifen, hinauf zu den Balkonen und in die kleinen Seitenkanäle hinein, die sich immer wieder rechts und links des Hauptkanals auftaten. Die meisten Häuser, vor allem die prächtigeren unter ihnen, verfügten über eigene Anlegestellen, an denen schmale Barken oder auch größere Segelboote festgemacht hatten. Wenn sich das Wasser zwischen zwei Wellen vom Ufer zurückzog, konnte sie sehen, dass überall Treppen ins Wasser hineinführten, was sie vermuten ließ, dass der Wasserstand normalerweise niedriger war.
Plötzlich sah sie direkt vor sich eine hohe Brücke mit einem mächtigen weißen Steinbogen den Kanal überspannen. Mehrere Häuschen standen auf dem Überweg. Wie die meisten Fenster in Venedigs Hausfassaden dominierten auch diese die Vorderfronten, wenngleich sie weniger lang gezogen und nur spärlich mit Ornamenten verziert waren.
»Il ponte di Rialto« , erklärte ihr freundlicher Führer, »und das dort ist der Fondaco dei Tedeschi .« Er deutete mit dem Kinn auf ein großes Gebäude zu ihrer Linken, vor dem unzählige Lastkähne be- und entladen wurden. »Dort treiben Ihre Landsleute Handel.«
»Siamo arrivati, ecco piazza San Marco!« , riss er sie einige Zeit später aus ihren Betrachtungen, während er zwischen
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