Die kalte Legende
niemand im Raum rauchte. Er nickte und grinste den jungen Araber an, der sich ausdruckslos abwandte.
Lincoln versuchte, das Gesicht der Gestalt ihm gegenüber zu erkennen. Der Mann sah aus wie Mitte dreißig und war auf eine herbe Art gut aussehend, mit einem dünnen aschfarbenen Bart und dunklen, nachdenklichen Augen, die eine innere Ruhe verströmten, die man leicht mit Arroganz hätte verwechseln können. Er war auffällig groß und trug ein kragenloses, knöchellanges Gewand aus grobem, mattweißem Stoff, darüber eine Weste, die, soweit Lincoln das sagen konnte, aus dichtem afghanischen Ziegenhaar bestand. Ohne Kopfbedeckung, mit Socken und schweren Sandalen an den Füßen, saß er mit geschmeidiger Eleganz im Schneidersitz auf der Matte. Er hatte sich leicht vorgebeugt und las denjenigen, die in Hörweite waren, von einem Blatt Papier vor, wobei er hin und wieder mit dem langen Zeigefinger der rechten Hand auf ein Wort tippte, um die Bedeutung zu unterstreichen. Das Einzige, was Lincoln hörte, war der honigsüße Unterton von jemandem, der seine Stimme nicht erheben musste, um sich Gehör zu verschaffen.
Es gab anscheinend eine Art Warteschlange, denn die beiden Männer, die zwischen Daoud und dem Mann saßen, den Lincoln als den Saudi identifizierte, ergriffen als Nächste das Wort. Schließlich kam Daoud an die Reihe. Er beugte sich vor und sprach etliche Minuten lang auf den Saudi ein. Einmal deutete er mit einer Kopfbewegung auf die Amerikaner, die gegenübersaßen. Erst da richtete der Saudi den Blick auf die Besucher. Er kratzte sich mit mehreren Fingern die Brust und sprach ein einziges Wort. Daoud blickte Lincoln an und winkte ihn herüber. Leroy nahm an, dass er auch gemeint war, doch Daoud hob warnend einen Finger, und der Texaner sank zurück in seine verkrampfte Sitzposition. Auf seinen Stock gestützt, hievte Lincoln sich hoch, ging hinüber zu dem Saudi und hockte sich vor ihn auf den Boden. Der Saudi legte zur Begrüßung die flache Hand aufs Herz, und Lincoln ahmte die Geste nach. Ein dünner Mann mit fettigen, in der Mitte gescheitelten Haaren und einer dicken Brille, die ihm auf die Nasenspitze gerutscht war, saß neben dem Saudi und hatte ein liniertes Notizbuch auf dem Schoß. Lincoln hielt ihn für einen Sekretär. Der Saudi murmelte etwas, und der Sekretär wiederholte es mit lauter Stimme. Augenblicklich sprangen alle Männer, die ringsum an den Wänden saßen, auf und verließen den Raum. Nur Leroy blieb sitzen und rutschte in seiner unbequemen Position, an die er sich nie gewöhnen würde, hin und her. Lincoln blickte von Daoud auf seinen Gastgeber und dann wieder auf Daoud, als der zu einer kurzen Ansprache auf Arabisch anhob. Der Saudi lauschte aufmerksam und nickte hin und wieder zustimmend, wobei seine Augen gelegentlich zu Lincoln und einmal zu Leroy auf der anderen Seite des Raumes huschten. Schließlich kratzte sich der Saudi erneut die Brust und stellte Fragen. Der Sekretär mit den fettigen Haaren übersetzte.
»Er heißt Sie in Boa Vista willkommen. Er fragt, wie Sie aus Kroatien hergekommen sind.«
»Ich bin mit der Lufthansa von Zagreb über München nach Paris geflogen, dann mit Air France nach New York, dann mit PanAm nach São Paulo. Von dort hat mich ein kleines Charterflugzeug nach Foz do Iguaçú gebracht.«
Als der Sekretär übersetzt hatte, stellte der Saudi, ohne den Blick von Lincoln abzuwenden, eine neue Frage. Der Sekretär sagte: »Er fragt, wie es um den Kampf in Bosnien steht. Er fragt, ob die Bosnier, wenn es zum Krieg kommt, Sarajewo verteidigen können, falls die Serben die Berge rings um die Stadt einnehmen.«
»Nach allem, was man hört, ist das serbische Militär den Bosniern weit überlegen«, sagte Lincoln. »Ich glaube aber, die Bosnier werden im Falle eines Krieges Stärke daraus ziehen, dass sie nirgendwo hinkönnen. Sie haben Kroatien im Rücken, und die Kroaten hassen sie genauso, wie die Serben sie hassen.«
Nachdem der Sekretär übersetzt und eine Antwort abgewartet hatte, sagte er: »Er pflichtet Ihrer Analyse bei. Er erzählt die Geschichte von dem griechischen Heerführer, der seine Offiziere davor warnte, eine schwächere Armee anzugreifen, die in einer Schlucht ohne Rückzugsmöglichkeit eingeschlossen ist, weil die schwächere Armee die stärkere dann besiegen würde.«
Der Saudi sagte erneut etwas und wieder übersetzte der Sekretär.
»Er fragt, wie Sie große Mengen Ammoniumnitrat beschaffen wollen, ohne die Aufmerksamkeit
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