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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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sie die Hand, um mit dem Davidstern zu spielen. »Die Nazis haben meine ältere Schwester in ein Konzentrationslager in Litauen deportiert. Sie konnte fliehen und hat sich den kommunistischen Partisanen angeschlossen, die der deutschen Nachhut das Leben schwer gemacht haben. Meine Schwester – ihr Partisanenname war Rosa, nach Rosa Luxemburg, richtig hieß sie Melka – hat versucht, die Juden in den Schtetln zu warnen, die noch nicht von den Deutschen und ihren mordenden Einsatzgruppen überrollt worden waren. Nur wenige glaubten ihr – sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass die Nachfahren von Goethe und Beethoven und Brahms zum Massenmord an einem ganzen Volk imstande waren. Aber in etlichen Schtetln gingen die Rabbis auf Nummer Sicher. Sie sammelten die heiligen Thorarollen und unschätzbar wertvollen Kommentare ein – einige davon waren viele hundert Jahre alt – und gaben sie einem litauisch-orthodoxen Bischof zur Aufbewahrung, der sie in einer entlegenen Kirche versteckte. Nach dem Krieg hat meine Schwester mir den Namen der Kirche verraten: Spaso-Preobraschenski Sabor, das bedeutet Kirche der Verklärung Christi, in Susowka, einer Stadt an der Memel, nicht weit von der Grenze zu Weißrussland. Als ich Samat die Geschichte erzählte, ließ er alles stehen und liegen und fuhr zu der Kirche, um die Thorarollen zu holen und nach Israel zu bringen, obwohl er, soviel ich weiß, gar nicht jüdisch ist. Der Metropolit der Diözese weigerte sich, sie herauszugeben, ja sogar, sie zu verkaufen, als Samat ihm eine große Summe Geld bot. Allerdings war er zu einem Tausch bereit: Die Thorarollen gegen die sterblichen Überreste des heiligen Gedymin, der im vierzehnten Jahrhundert die Hauptstadt Vilnius gegründet hatte. Seine Gebeine waren während des Krieges von deutschen Truppen geraubt worden. Nach jahrelangen Nachforschungen spürte Samat die Gebeine des Heiligen schließlich in einer kleinen orthodoxen Kirche bei Cordoba in Argentinien auf, wohin sie nach dem Krieg von geflohenen Nazis geschmuggelt worden waren. Als die Kirche sie nicht herausgeben wollte, schaltete Samat einen Bekannten im argentinischen Verteidigungsministerium ein. Samat hat mir erzählt, er hätte das Verteidigungsministerium überreden können, die Reliquien an die litauische Heimat zurückzugeben.«
    »Als Gegenleistung für was?«
    »Das hat Samat mir leider nie gesagt.«
    »Wann hat er Ihnen das mit dem Verteidigungsministerium erzählt?«
    »Als er das letzte Mal in Prag war.«
    »Und wann war das?«
    »Er ist von Israel zuerst nach London zu Taletbek Rabbani und dann hierher geflogen, um mich zu besuchen, und dann weiter nach –«
    Martin merkte, dass Susanna Slánskás Augen sich auf etwas über seiner Schulter konzentrierten. Als er den Kopf wandte, um zu sehen, wo sie hinschaute, bemerkte er, wie ihre Finger den Davidstern unter dem Kragen ihrer Bluse verschwinden ließen. Radek, die Sherlock-Holmes-Mütze vor dem Solarplexus, die andere Hand in der Tasche der Tiroler Jacke vergraben, stand an der Tür des Salon de thé und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Als er Susanna Slánská und Martin erspähte, deutete er mit dem Schirm seiner Mütze in ihre Richtung und steuerte zwischen den Tischen hindurch auf sie zu. Hinter ihm schwärmten ein Dutzend Männer aus.
    Susanna Slánská entfuhr ein angstvolles Keuchen, als sie sich erhob. Sie sagte: »Hohes Alter ist nichts für Leute mit schwachem Herzen«, und fuhr dann, die Augen starr auf Radek gerichtet, mit kaum merklichen Lippenbewegungen fort: »Im Aralsee, zwanzig Kilometer vom Festland entfernt, liegt die Insel Wosroschdenije. In der Sowjetära wurden dort Biowaffen getestet. Auf der Insel gibt es einen Ort namens Kantubek. Samat hat in Kantubek eine Kontaktperson, einen Georgier namens Hamlet Achba. Können Sie das alles behalten?«
    »Wosroschdenije. Kantubek. Hamlet Achba.«
    »Warnen Sie Samat …« Radek war fast bei ihnen. »Ich werde den Gestank eines weiteren Gefängnisses ganz sicher nicht überleben«, murmelte sie vor sich hin.
    Um sie herum beobachteten die Kellner und Gäste gebannt, wie sich Radek und seine Begleiter dem Mann und der Frau an dem kleinen Tisch hinten im Raum näherten. Radek, die Lippen zu einem schwachen, zufriedenen Lächeln verzogen, erreichte den Tisch. »Ich habe eine Pistole in der Tasche«, sagte er zu Martin. »Eine deutsche Walther P1. Sie sind verhaftet, Mister. Sie ebenfalls, werte Dame.«
    Martin spürte, wie sich das Deck

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