Die kalte Legende
protzigen Hotels gegangen, das erst kürzlich auf der anderen Seite des Flusses eröffnet hatte. Von dem Fenster aus, an dem ihr Tisch stand, konnte Martin sehen, was ihm vom Flugzeug aus aufgefallen war: die Hügel rings um Prag mit ihren tristen Trabantensiedlungen.
»Mein Mann«, sagte die Frau jetzt und konzentrierte sich auf ihre Geschichte, »war Arzt in Vinohrady, das ist ein Stadtteil von Prag, hinter dem Museum. Ich arbeitete als seine Sprechstundenhilfe. Wir traten zusammen einem literarischen Zirkel bei, der sich einmal die Woche traf, um über Bücher zu sprechen. Ach, das war eine sehr anregende Zeit, das können Sie mir glauben. Mein Mann war furchtlos – er hat ständig gewitzelt, hohes Alter sei nichts für Leute mit schwachem Herzen.« Sie trank einen großen Schluck Brandy und zog hektisch an ihrer Beedie, als würde die Zeit knapp, als müsse sie die Geschichte ihres Lebens noch schnell erzählen, weil es bald zu Ende ginge. »Sagen Sie ruhig, wenn Sie das alles maßlos langweilt, Mr. Odum.«
»Im Gegenteil«, versicherte Martin ihr. »Es fasziniert mich maßlos.«
Susanna Slánská zog eine schlanke Schulter in ihrem maßgeschneiderten Designerjackett hoch. »Wir waren glühende Marxisten, mein Mann und ich. Wir waren überzeugt, dass der große russische Bär den Kommunismus erstickt hatte, und nicht umgekehrt. Unser tschechischer Held, Alexander Dubček, war noch ein parteitreuer Apparatschik, als wir die ersten Petitionen für Reformen unterschrieben. Die von den Sowjets ernannten Statthalter, die über uns herrschten, konnten nicht unterscheiden zwischen antikommunistischen und prokommunistischen Dissidenten, wie wir es waren. Aber sie fanden, dass die ganze Entwicklung in die falsche Richtung lief und auf die richtige zurückgeführt werden müsste, damit der Marxismus überleben könne. Und wenn sie doch mal einen Unterschied machten, hielten sie unsere Form des Dissidententums für die bedrohlichere von beiden. Und so ereilte uns das gleiche Schicksal wie die anderen.«
Martin sah, wie sich ihre Gesichtsmuskeln anspannten, weil sie sich so lebhaft an ihr Leiden und ihren Kummer erinnerte, als würde sie alles erneut durchleben. »Dazu muss ich Ihnen eine Geschichte erzählen«, sprach sie hastig weiter, fast ohne Atem zu holen. »Über den NKWD-Kommissar, der Stalin gegenüber zugegeben hatte, dass ein bestimmter Gefangener kein Geständnis ablegen wollte. Stalin dachte über das Problem nach. Dann fragte er den Kommissar, wie viel der Staat wiege – der Staat mit all seinen Gebäuden und Fabriken und Maschinen, die Armee mit all ihren Panzern und Lkws, die Marine mit all ihren Schiffen, die Luftwaffe mit all ihren Flugzeugen. Und dann sagte Stalin: Glauben Sie wirklich, dieser Gefangene kann dem Gewicht des Staates standhalten? «
»Haben Sie das Gewicht des Staates zu spüren bekommen? Waren Sie und Ihr Mann im Gefängnis?«
Susanna Slánská war mittlerweile so aufgewühlt, dass sie gleichzeitig Rauch und Brandy schluckte. »Natürlich haben wir das Gewicht des Staates zu spüren bekommen. Natürlich waren wir im Gefängnis, einige Monate zur selben Zeit und einmal sogar im selben Gefängnis, einige Monate zu verschiedenen Zeiten, sodass wir wie Schiffe in der Nacht aneinander vorbeifuhren. Ich habe festgestellt, dass man den Gestank des Gefängnisses in der Nase mitnahm, wenn man entlassen wurde. Es dauerte Monate, Jahre, ihn wieder loszuwerden. Einmal, als mein Mann aus dem Gefängnis nach Hause kam, habe ich ihn durch den Spion in der Tür erst gar nicht erkannt, so übel hatte man ihn zugerichtet. Passiert so etwas auch in Amerika, Mr. Odum, dass man seinen eigenen Mann nicht mehr erkennt? Und einmal wurde er verhaftet, weil er einen jungen Mann behandelt hatte, der sich den Knöchel gebrochen hatte. Wie sich herausstellte, war es ein von der Polizei gesuchter Dissident. Die amerikanischen Zeitungen, die über den Prozess berichtet haben, erwähnten, das Gleiche sei dem Arzt widerfahren, der den gebrochenen Knöchel von Abraham Lincolns Mörder behandelt hatte.«
Aus irgendeiner dunklen Vergangenheit – aus irgendeiner dunklen Legende? – kam der Artikel über den Prager Gerichtsprozess in Martins Gedächtnis an die Oberfläche. »Sie sind die Frau von Pavel Slánsk!«
»Sie haben den Namen gehört! Sie erinnern sich an den Prozess!«
»Jeder, der die Ereignisse in Osteuropa verfolgt hat, kennt den Namen Pavel Slánsk«, sagte Martin. »Der jüdische Arzt, der den
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