Die kalte Legende
gesichtet. Dann in der Umgebung des Prager Vyšehrad-Bahnhofs. Angeblich soll er in der Stadt Kantubek auf der Insel Wosroschdenije im Aralsee gewesen sein. Es liegen uns auch Meldungen vor, dass er möglicherweise in Litauen war, in Susowka, nahe der weißrussischen Grenze. Es wird sogar gemunkelt, dass er die geheimnisvolle Person war, die mit dem Hubschrauber hinter dem Friedhof in Prigorodnaja gelandet und nach einer halben Stunde wieder gestartet ist.«
Der Sekretär erschien mit einem Tablett im Türrahmen. Der Mann hinter dem Schreibtisch winkte ihm, es auf den kleinen runden Tisch zwischen zwei Stühlen zu stellen und sich zurückzuziehen. Als er mit dem Gefangenen allein war, winkte er ihn zu einem der Stühle. Er setzte sich auf den anderen und füllte zwei Tassen mit dampfendem Tee. »Sie müssen unbedingt eine Brioche probieren«, sagte er und schob den Korb zu Martin hinüber. »Die sind so köstlich, dass es bestimmt eine Sünde ist. sie zu essen. Also, gospodin Kafkor, lassen Sie uns gemeinsam sündigen«, fügte er hinzu und biss genüsslich in eine Brioche, wobei er eine Hand als Krümelfänger darunter hielt.
»Mein Name ist Tscheklachwili«, sagte er dann, ehe er wieder einen Bissen nahm. »Archip Tscheklachwili.«
»Das ist ein georgischer Name«, bemerkte Martin.
»Ich habe georgische Wurzeln, obwohl ich mich seit langem Mütterchen Russland verbunden fühle. Ich war der Straßenbauarbeiter«, fügte er mit einem unübersehbaren Funkeln in den Augen hinzu, »der Schweißer, der von unserem Sicherheitsdienst engagiert worden war. Ich habe die Fotos von Ihnen mit der Kamera gemacht, die in meiner Thermosflasche versteckt war.«
»Da haben Sie’s jetzt ja weit gebracht«, bemerkte Martin.
»Die Fotos von Ihrer Hinrichtung waren mein erster großer Erfolg. Meine Vorgesetzten wurden auf mich aufmerksam und förderten ab da meine Karriere. Nachdem Sie in Moskau aus dem Abschleppwagen gesprungen und verschwunden waren, haben wir Gerüchte gehört, Sie wären zur amerikanischen Botschaft gegangen, die ja ganz in der Nähe lag. Der CIA-Stationschef soll sich persönlich um Sie gekümmert haben. Achtundvierzig Stunden lang herrschte ein hektischer verschlüsselter Funkverkehr, und danach wurden Sie mit einem Botschaftswagen aus Moskau rausgebracht, Richtung Finnland. In dem Wagen saßen fünf Männer – alle hatten einen Diplomatenpass und konnten die Grenze unkontrolliert passieren. Was danach mit Ihnen geschehen ist, wissen wir einfach nicht. Ehrlich gesagt, ich hab den Verdacht, dass es Ihnen genauso geht.«
Martin starrte Tscheklachwili an. »Wie kommen Sie darauf?«
Tscheklachwili sammelte seine Gedanken. »Mein Vater wurde 1953 vom KGB verhaftet, weil man ihn für einen amerikanischen Agenten hielt. Ein Schnellgericht verurteilte ihn zum Tode. Die Wachen holten ihn eines Abends im März aus seiner Zelle im riesigen KGB-Hauptquartier Lubjanka und führten ihn zu dem Aufzug, mit dem Gefangene hinunter in die Kellergewölbe zur Exekution gebracht wurden. Als sie feststellten, dass der Aufzug nicht funktionierte, brachten sie ihn zurück in seine Zelle. Techniker arbeiteten die ganze Nacht, um den Aufzug zu reparieren. Am nächsten Morgen holten die Wachen meinen Vater wieder aus der Zelle. Sie warteten auf den Aufzug, als sie plötzlich erfuhren, dass Stalin tot war. Alle Hinrichtungen wurden aufgehoben. Einige Tage später ließ die neue Führung Berija hinrichten, und mein Vater kam im Zuge einer Generalamnestie frei.«
»Was hat die Geschichte mit mir zu tun?«
»Ich weiß noch, wie mein Vater nach Hause kam – ich war damals sechs Jahre alt. Es hatte geregnet, und er war nass bis auf die Haut. Meine Mutter fragte, wo er gewesen sei. Er schüttelte verwirrt den Kopf. Er hatte einen leeren Ausdruck in den Augen, als hätte er etwas Entsetzliches gesehen, ein Ungeheuer oder ein Gespenst. Er konnte sich weder an seine Verhaftung noch an das Schnellgericht erinnern, auch nicht, dass die Wachen ihn zum Aufzug geführt hatten, um ihn zur Hinrichtung zu bringen. Es war alles aus seinem Gedächtnis gelöscht. Erst als ich beim Geheimdienst anfing, habe ich aus seiner Akte erfahren, was damals passiert war. Mein Vater war inzwischen Rentner. Jahre später hab ich all meinen Mut zusammengenommen und ihm erzählt, was ich herausgefunden hatte. Er hörte sich die Geschichte an, als wäre sie jemand anderem passiert, lächelte höflich, als hätte das alles nichts mit ihm zu tun, und lebte weiter mit
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