Die kalte Legende
den Erinnerungen, die er hatte. Und mit diesen Erinnerungen ist er auch gestorben.«
Nachdem er seinen Tee ausgetrunken hatte, holte Tscheklachwili einen kleinen Schlüssel hervor und hielt ihn Martin hin. »Wenn Sie durch die Tür da gehen, kommen Sie in ein schmales Treppenhaus. Der Schlüssel ist unten für die Hintertür, die auf eine Seitenstraße führt. Schließen Sie die Tür hinter sich ab und werfen Sie den Schlüssel in einen Gully.«
»Wieso machen Sie das?«
»Ich glaube Ihnen, dass Sie sich nicht daran erinnern können, wie Sie über den Fluss gebracht und anschließend lebendig begraben wurden. Ich glaube Ihnen auch, dass Sie Samat Ugor-Shilow oder seinen Onkel, den Oligarchen, nicht kennen. Ich bin einfach davon überzeugt, dass Sie uns bei unseren Ermittlungen nicht helfen können. Wenn Sie schlau sind, verlassen Sie Russland so schnell Sie können. Aber gehen Sie auf keinen Fall zur amerikanischen Botschaft – der hiesige Stationschef hat in den vergangenen Wochen diskret Erkundungen über einen gewissen Martin Odum eingeholt. Seiner Beschreibung nach vermuten wir, dass Martin Odum und Josef Kafkor ein und dieselbe Person sind.«
Martin wollte sich stammelnd bedanken, doch Tscheklachwili fiel ihm ins Wort. »Der hagere Mann auf dem dritten Foto, der dem Verurteilten eine letzte Zigarette reicht, das ist Samat Ugor-Shilow. Der Mann mit dem silbernen Haar, der die Hinrichtung aus einem Auto beobachtet, das ist der Oligarch, Tsvetan Ugor-Shilow. Vergessen Sie nicht, die wollten Sie schon einmal exekutieren. Und sie werden es bestimmt wieder versuchen, wenn Sie wissen, wo Sie zu finden sind. Ach ja, ich muss Ihnen noch Ihre Sachen zurückgeben.«
Er nahm den kanadischen Pass, das Geld, die Ansichtskarte mit dem Motiv einer Familie, die irgendwo in Nordamerika über eine Landstraße spaziert, und die Schnürsenkel, und händigte dem Gefangenen alles aus.
Tscheklachwili sah zu, wie der Gefangene die Schnürsenkel durch die Ösen fädelte. Als Martin aufblickte, hob er nur kurz die breiten Schultern an, um zum Ausdruck zu bringen, dass es nichts mehr zu sagen gab.
Martin nickte. »Wie kann ich das wieder gutmachen?«, fragte er.
»Gar nicht.« Die Fältchen um Tscheklachwilis Augen wurden länger, als er ein Lächeln unterdrückte. »Übrigens, Archip Tscheklachwili ist eine Legende. Ich nehme an, genau wie Josef Kafkor und Martin Odum. Der Kalte Krieg ist vorbei, und dennoch leben wir weiter in unseren Legenden. Gut möglich, dass Sie das letzte Opfer des Kalten Krieges sind, verirrt in einem Legendenlabyrinth. Vielleicht gelingt es Ihnen ja, mit Hilfe der Postkarte hinauszufinden.«
1992: WIE ES KAM, DASS LINCOLN DITTMANN EINE SPRACHSCHULE BESUCHTE
»Ladys und Gentlemen«, sagte der ehemalige Stationschef, der im Legendenausschuss den Vorsitz hatte, während er auf den ovalen Tisch klopfte, um Ruhe einzufordern, »ich möchte Sie auf eine bemerkenswerte Kleinigkeit aufmerksam machen, die wir in Martin Odums Biographie übersehen haben.«
»Denken Sie das Gleiche wie ich?«, fragte der Aversionstherapeut.
»Seine Mutter war –«
»Sie war Polin, Menschenskind«, unterbrach ihn Maggie Poole barsch. Strahlend fügte sie hinzu: »Seine Mutter ist nach dem Zweiten Weltkrieg in die Staaten immigriert.«
»Wie konnte uns das nur entgehen!«, sagte die Lexikographin.
»Schließlich hatten wir diese Kleinigkeit jedes Mal, wenn wir an einer Tarngeschichte für ihn gearbeitet haben, direkt vor der Nase«, stimmte der Älteste im Ausschuss zu, ein grauhaariges CIA-Fossil, das schon für OSS-Agenten im Zweiten Weltkrieg falsche Identitäten erfunden hatte. Er blickte den Vorsitzenden an und fragte: »Wie sind Sie plötzlich drauf gekommen?«
»Als Lincoln Dittmann vom Dreiländereck zurückkam«, sagte der Vorsitzende, »schrieb er in seinem Einsatzbericht, er habe zufällig in einer Kneipe mitbekommen, wie sich ein alter Losverkäufer mit einer Prostituierten unterhalten hat und plötzlich gemerkt, dass er sie einigermaßen verstehen konnte.«
»Grund dafür ist, dass seine Mutter ihm als Kind Gutenachtgeschichten auf Polnisch erzählt hat, als sie in dem Kaff namens Jonestown in Pennsylvania lebten«, erklärte der Aversionstherapeut ungeduldig.
» Mon Dieu, sechs Monate Crashkurs und er spricht Polnisch wie ein Pole«, sagte Maggie Poole.
»Bei dem, was DDO Crystal Quest mit Lincoln vorhat«, sagte der Vorsitzende, »wäre es nicht schlecht, wenn er auch Russisch spricht.«
»Martin Odum hat
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