Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
Vom Netzwerk:
ältesten Trick der Welt hereinfallen, die Augen auf das halb ausgetrunkene Glas Lager und den Koffer mit dem Regenmantel heften und warten, dass er zurückkam. Je nachdem, wie sie sich mit dem Supervisor verstanden, würden sie sofort Meldung machen, wenn Martin nicht wieder zurückkam, oder noch warten.
    Martin kannte diese spezielle Herrentoilette seit einem Einsatz, der eine Ewigkeit zurücklag. Er war auf dem Weg in die Sowjetunion gewesen und hatte in London Zwischenstation gemacht, um sich von der Osteuropa-Abteilung des MI6 briefen zu lassen. Welche Tarnung hatte er damals benutzt? Es musste die ursprüngliche Martin-Odum-Legende gewesen sein, denn Dittmann und Pippen kamen später, jedenfalls glaubte er das. Im hintersten Winkel seines Gehirns hatte er eine der Informationen gespeichert, die Agenten sammelten wie seltene Briefmarken: Die Toilette hier hatte einen verschlossenen Notausgang, der sich aber im Notfall öffnen ließ, wenn man die Glasscheibe eines daneben angebrachten Kästchens einschlug, in dem der Schlüssel an einem Haken hing. Und nach Martins Ansicht handelte es sich hier eindeutig um einen Notfall. Er verschaffte sich den Schlüssel und öffnete die Tür des Notausgangs. Augenblicke später trat er auf eine enge Gasse, die zu einer Seitenstraße führte, auf der sich zum Glück auch noch ein Taxistand befand.
    »Paddington«, sagte er zu dem Fahrer.
    Er wechselte zweimal das Taxi und nannte erst dem letzten Fahrer sein eigentliches Ziel. »Golders Green«, sagte er, lehnte sich zurück und genoss den flüchtigen Triumph, seinen Verfolgern vom MI5 ein Schnippchen geschlagen zu haben.
    »Wohin genau?«, fragte der Fahrer über die Sprechanlage.
    »Sie können mich vor der U-Bahn-Station rauslassen.«
    »Wie Sie möchten. Sie sind Amerikaner, nicht?«
    »Wie kommen Sie denn darauf?«
    »Das hört man.«
    »Eigentlich bin ich Pole«, sagte Martin, »habe aber in den USA gelebt, so dass man’s nicht mehr hört.«
    Der Fahrer lachte leise ins Mikro. »Sie können mich nicht verschaukeln. Wenn Sie Pole sind, bin ich ein Eskimo.«
    Nachdem Martin vor der U-Bahn-Station in Golders Green ausgestiegen war, blieb er einen Augenblick lang unter dem Wort »Courage« stehen, das in das dortige Steindenkmal eingraviert war, um sich zu orientieren. Dann ging er die breite Avenue hinunter, wo viele Leute in der strahlenden Mittagssonne unterwegs waren – philippinische Dienstmädchen schoben alte Damen in Rollstühlen, Jungen mit bestickten Kippas auf dem Kopf flitzten auf Mountainbikes vorbei, Dutzende von orthodoxen jüdischen Frauen mit Perücken und langen Kleidern schauten sich die Auslagen von Geschäften mit englischen und hebräischen Schildern an. Martin betrat einen Secondhandladen, der von einem jüdischen Wohlfahrtsverband betrieben wurde, und kaufte einen alten Koffer, der aussah, als hätte er die Welt schon mehrmals umrundet. Er schnitt das ausgefranste Seidenfutter unter dem Deckel ein und versteckte seine Ausweispapiere, dann füllte er die Tasche mit alten, aber noch brauchbaren Kleidungsstücken. Er erwarb einen Trenchcoat, der so gut wie nichts kostete, weil der Gürtel fehlte und der Saum an einer Stelle aufgegangen war. In einem Drugstore kaufte er wieder eine Tube Zahnpasta und eine kleine Dose Rasierschaum sowie einen Einwegrasierer. Auf der Woodstock Avenue entdeckte er neben einer Synagoge ein heruntergekommenes Haus mit einem ungepflegten Rasen, auf dem ein Schild mit der Aufschrift »Zimmer zu vermieten« stand. Er bezahlte bei einer mürrischen Vermieterin für eine Woche im Voraus, verstaute sein Gepäck und ging dann um die Ecke in einen koscheren Deli, um einen Happen zu essen. Anschließend kaufte er in einem Tabakladen eine Telefonkarte und betrat an der Golders Green Avenue, Ecke Woodstock Road, eine Telefonzelle, in der ein zerfetztes Telefonbuch an einer Kette hing. Er kramte in seiner Brieftasche nach dem Zettel mit der Telefonnummer, die Elena auf der Rückseite ihres Strudelrezeptes notiert hatte, schob die Plastikkarte in den Apparat und wählte.
    Martin benutzte Dante Pippens eingerosteten irischen Akzent, als sich am anderen Ende der Leitung eine weibliche Stimme meldete.
    »Mit wem spreche ich bitte?«, fragte er.
    »Mrs. Rainfield.«
    »Guten Tag, Mrs. Rainfield. Hier spricht Patrick O’Faolain von der Telefongesellschaft. Ich sitze auf einem Telefonmast und bin dabei, die Leitungen in Golders Green zu überprüfen. Wären Sie wohl so nett und drücken die

Weitere Kostenlose Bücher