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Die kalte Legende

Die kalte Legende

Titel: Die kalte Legende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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genau wie alle anderen im Tal in den Bürgerkrieg reingezogen – er hat an der Seite von Ahmed Schah Massud gegen die Taliban gekämpft, als die ihre Madrassah-Schulen in Pakistan verließen und nach Afghanistan eingeschleust wurden. Eines Tages luden die Taliban meinen Bruder zu einem Treffen unter weißer Flagge am Rande von Kabul ein.« Wieder erschien ein Lächeln in Rabbanis Augen, nur diesmal mit einem Anflug von Verbitterung.
    »Ich riet ihm davon ab, aber er war stur und furchtlos und hörte nicht auf mich. Also ging er hin. Die Taliban haben ihm und seinen drei Leibwächtern die Kehle durchgeschnitten.«
    »Ich erinnere mich vage an den Vorfall.«
    Rabbanis linke Hand kam in Sicht, was Martin verriet, dass er den Test bestanden hatte.
    »Wenn Sie am Khaiber waren und sich an Rabbani erinnern können«, sagte der alte Mann, »dann müssen Sie für die CIA gearbeitet haben.« Als Martin das weder bejahte noch verneinte, nickte Rabbani bedächtig. »Ich weiß, bestimmte Dinge werden nun mal nicht ausgesprochen. Verzeihen Sie einem alten Mann seine Indiskretion.«
    Martin hörte, wie nebenan am Bahnhof Züge mit jenem rhythmischen Klopfen ein- oder abfuhren, das fast so angenehm war wie die Reise selbst. »Mr. Rabbani, darf ich Sie fragen, wie Sie nach London gekommen sind?«
    »Mein Bruder hat mich nach England geschickt, um medizinisches Material für unsere verwundeten Kämpfer zu kaufen. Als mein Bruder ermordet wurde, hat ein Vetter mütterlicherseits meine Abwesenheit ausgenutzt und die Stammesführung an sich gerissen. Mein Vetter und ich sind Todfeinde – die Stammessitte verbietet es mir, Ihnen den Grund für die Fehde zu nennen, da kein Vertreter meines Vetters anwesend ist, um die andere Seite des Sachverhalts verteidigen zu können. Kurz und gut, es war für mich jedenfalls gesünder, in London zu bleiben.«
    »Und hier haben Sie dann mit Samat diesen Prothesenhandel aufgemacht?«
    »Ich weiß nicht, wie gut Sie Samat kennen«, sagte Rabbani, »aber im Grunde seines Herzens ist er ein Wohltäter. Er hat das Geld beschafft, um dieses Lagerhaus zu mieten und die Firma zu gründen.«
    »Der Samat, den ich kenne, steht nicht gerade in dem Ruf eines Wohltäters«, sagte Martin ausdruckslos. »Er betreibt zweifelhafte Geschäfte mit Waffen, die den Verlust von Gliedmaßen zur Folge haben. Wenn er Prothesen an Länder verkauft, die vom Krieg gebeutelt werden, dann sicher, um dabei ordentlich Profit zu machen.«
    »Sie täuschen sich in Samat, mein Sohn«, beteuerte Rabbani. »Und Sie täuschen sich in mir. Samat ist zu jung, um ausschließlich an Profit interessiert zu sein. Die Kartons mit Prothesen, an denen Sie vorhin vorbeigekommen sind, werden zum Selbstkostenpreis verkauft.«
    »Mm-hm.«
    »Sie glauben mir offenbar nicht.« Rabbani rutschte ungelenk von dem Hocker, holte hinter dem Pult zwei Gehstöcke hervor und durchquerte den Raum. Als er vor dem Sofa stand, zog er das linke Hosenbein hoch, und zum Vorschein kam eine hautfarbene Kunststoffprothese mit einem Gucci-Schuh.
    Martin fragte leise: »Wie haben Sie das Bein verloren?«
    »Man hat mir gesagt, es war eine Landmine.«
    »Sie erinnern sich nicht?«
    »In manchen Nächten tauchen in meinem Kopf flüchtige Bilder auf: eine ohrenbetäubende Explosion, Sandgeschmack im Mund, der klebrige Stumpf, als ich ihn berühre, über Monate hinweg das Gefühl, dass das Bein noch da wäre und ich Schmerzen in ihm hätte. Es sind Bilder wie aus dem Leben eines anderen, und deshalb habe ich Mühe, das Geschehen zu rekonstruieren.«
    »Psychiater nennen so was einen Schutzmechanismus der Psyche, glaube ich.«
    Schwer auf die beiden Stöcke gestützt kehrte Rabbani zu seinem Hocker zurück und hievte sich darauf. »Als ich Samat kennen lernte – das war Anfang der Neunziger –, habe ich in Moskau Waffen und Munition der Sowjetarmee gekauft, damit Massud und mein Bruder den Pandschir verteidigen konnten. Die russischen Truppeneinheiten, die nach dem Fall der Berliner Mauer aus der ehemaligen DDR abgezogen wurden, haben alles verkauft, was sie in ihren Arsenalen hatten – Sturmgewehre, MGs, Granatwerfer, Landminen, Funkgeräte, Jeeps, Panzer, Munition. Samat vertrat die Geschäftsinteressen von irgendeinem hohen Tier und fungierte als Mittelsmann. In dieser Phase meines Lebens hatte ich keine Skrupel, diese Waffen zu kaufen und zu benutzen. Ich habe den Taliban genau das angetan, was sie schließlich mir angetan haben. Das war, bevor ich auf eine Landmine

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