Die kalte Nacht des Hasses
etwas Unerwartetes. Gegen Mittag kam Mama ins Kinderzimmer, wo die Ältere Romeo und Julia las, und sagte: »Also, ich sage dir eins. Ich werde die fünfzig Dollar Anmeldegebühr nicht abschreiben. In letzter Zeit siehst du ein bisschen besser aus. Los, geh dir die Haare waschen. Du wirst Sissys Platz einnehmen. Du wirst eben in deinem Jahrgang antreten.«
Die Ältere war entgeistert und konnte ihren Ohren kaum glauben. »Mach schon, habe ich gesagt. Spring in die Wanne. Ich werde ewig brauchen, um deinen wilden Haarmob zu bändigen.«
Die Ältere gehorchte, aber sie war immer noch überzeugt, dass sie träumte, und sie genoss es, dass Sissy draußen vor der Badezimmertür stand und weinte und wimmerte und heulte, weil die Ältere nun an ihrer Stelle an dem Wettbewerb teilnehmen durfte. Mama öffnete den Kosmetikkoffer und trug sorgsam Grundierung und Rouge auf, so wie sonst bei Sissy, und als die Ältere in den Spiegel schaute, fand sie sogar, dass sie Sissy recht ähnlich sah.
»Du siehst nicht halb so schlimm aus, wie ich gedacht hätte. Und als Talent kannst du eines dieser komischen Gedichte vorlesen, die du immer aufsagst. Das ist nicht so gut wie Sissys Tanz, aber es wird reichen müssen. Die Mädchen in deiner Altersklasse sind bei Weitem nicht so hübsch wie die in Sissys Klasse, aber ich will dir keine großen Hoffnungen machen. Du hast keine Chance zu gewinnen. Glaub mir.«
Der Stiefvater starrte die Ältere an, als sie die Treppe herunterkam. Er sagte nichts, aber er hatte sie noch nie zuvor so angesehen. Er schaute wie der Junge, wenn sie einander küssten, und es gefiel ihr gar nicht, dass der Stiefvater sie so ansah. Es gefiel ihr überhaupt nicht. Mama ebenfalls nicht, denn sie stieß die Ältere in den Rücken und sagte, sie sollte sich beeilen und in den Wagen steigen. Oben kreischte und heulte Sissy und schmiss ihre Spielzeuge gegen die Wand, aber keiner kümmerte sich um sie.
Beim Wettbewerb hatte die Ältere Todesangst, auf die Bühne zu gehen, aber der Junge trat neben sie, als Mama bei der Registrierung beschäftigt war und ihn nicht sah.
»Du siehst zum Anbeißen aus«, sagte er ihr.
Die Ältere lächelte. »Sissy nicht mehr. Von der würdest du Sodbrennen bekommen.«
»Ich habe dir doch gesagt, deine Mutter sollte dich teilnehmen lassen. Du wirst gewinnen, wart’s nur ab.«
Die Ältere gewann tatsächlich und wurde fast ohnmächtig vor Schreck, als sie ihren Namen hörte. Sie ging bis ans Ende des Laufsteges und lächelte den Jungen an, der unten im Publikum saß, während sie die schönste Tiara auf ihren Kopf setzten.
Mama lief zu ihr und umarmte sie, wie sie sie noch nie umarmt hatte, und die Ältere war so überwältigt, dass sie fast die ganzen schrecklichen und gemeinen Dinge vergaß, die ihre Mutter ihr in der Vergangenheit angetan hatte. Ihre Mutter liebte sie, jetzt wo sie hübsch war, und das war alles, was sie sich je gewünscht hatte.
Die kleine Schwester des Jungen gewann ebenfalls in ihrer Altersklasse, und später saßen sie mit ihren Tiaras zusammen im Winnebago und tranken Bier, das der Junge aus dem Kühlschrank seines Vaters stibitzt hatte. Sie prosteten sich auf den Erfolg ihrer Aufgabe zu, und auf die Siege beim Schönheitswettbewerb, und als die kleinen Schwestern gegangen waren, liebte der Junge die Ältere im hinteren Schlafzimmer des Winnebagos zum ersten Mal, und es gefiel ihr. Sie liebte es, die Tiara zu tragen, als er ihre Jungfräulichkeit beendete, und sie liebte ihn. Er hatte ihr Leben von großem Elend in eine wundervolle Märchenwelt verwandelt, hell und großartig und glücklich. Sie liebte ihn und würde alles auf der Welt für ihn tun, immer und ewig.
Von diesem Tag an und die nächsten Jahre lang war die Ältere so glücklich wie nie zuvor. Zwischen ihr und Mama war jetzt alles anders. Jetzt war sie diejenige, die Krönchen gewann, und selbst der Stiefvater kümmerte sich nun um sie und nahm sie in den Arm. Sissy war diejenige, die jetzt immer Ärger mit ihnen bekam. Ihr Gesicht hatte sich nie ganz von den Chemikalien in ihrem Oil of Olaz erholt, und sie behielt einige flache Narben zurück, die nicht wirklich schlimm aussahen, aber mit Grundierung nicht zu verbergen waren. Deshalb ließ Mama sie nicht mehr bei Schönheitswettbewerben antreten, und wenn Mama wütend wurde, war es jetzt immer Sissy, die Prügel bekam. Der Stiefvater liebte Bubby immer noch am meisten, weil er ein Junge war, und weil er inzwischen mit ihm im Garten Baseball
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