Die Kalte Sofie
schwoll an, wurde lauter, fröhlicher.
Vroni atmete energisch durch.
Nein. So schnell warf eine Veronika Ilmberger die Flinte nicht ins Korn!
Eine Welle von Erinnerungen drohte sie mit einem Mal zu überfluten. Ihr treuloser Vinzenz, dieser Saubazi – was für ein himmlischer Tänzer war er doch gewesen! Frei und aufgehoben zugleich hatte sie sich damals vor mehr als vierzig Jahren in seinen Armen gefühlt, übermütig, zum Fliegen bereit …
Hände, die nach den blau-weißen Bändern griffen und sie im Gegentanz wieder aufflochten.
Lachen.
Geflüsterte Worte.
Wärme, die in ihr aufstieg.
Der Duft nach Jugend, nach Sommer.
All diese unausgesprochenen Verheißungen, die endlich wahr werden könnten …
»Steht Eahna fei guad, die zarte Röte.« Der sanfte Bariton ihres Sitznachbarn schräg gegenüber, eines freundlichen Herrn mit silbergrauem Haar und verschmitzten blauen Augen, holte sie in die Gegenwart zurück. »San Sie auch von hier?«
»Sozusagen«, erwiderte sie.
»Des heißt?«, hakte der Mann mit charmantem Lächeln nach.
»Ich? Ich komm von Obergiasing …«
Seine Augen ließen sie nicht mehr los. Blitzblau unter dunklen Wimpern. Seltsam eindringlich.
Jetzt war sie plötzlich doch froh, dass sie heute das gute Kostüm angezogen und die weiße Bluse darunter noch einmal frisch aufgebügelt hatte.
Und Manus wilde lila Haarfarbe?
Ihm schien sie zu gefallen.
»I bin aus der Sommerstraß«, sagte er. »Da, wo die Schreinerei is.« Er zögerte. »Wenns was brauchen, könnens mich gern amal dort besuchn …«
»Schau ma mal.« Vroni wurde noch wärmer ums Herz. »Aber jetzt muass i wirklich wieder weiter.« Abrupt erhob sie sich. »Jemand wartet schon auf mich.«
Sein Gesicht verdüsterte sich.
»A kranke ehemalige Nachbarin«, setzte Vroni erklärend hinzu. »Wohnt gleich hier in der Näh.«
Das Strahlen kehrte zurück.
»I bin der Denninger Florian. Flo – für meine Freunde. Und mit wem hab i das Vergnügen ghabt? Des müssens mir scho no verraten!«
»Veronika«, sagte sie, schon halb im Gehen. »Veronika Ilmberger.«
»Vroni«, wiederholte er, galant schmunzelnd. »Ja, des passt!«
Plötzlich konnte es ihr gar nicht mehr schnell genug gehen, bis sie endlich um die Ecke gebogen war. Bildete sie sich das nur ein – oder hatte sie tatsächlich seine Blicke im Rücken gespürt?
Atemlos drückte Vroni den Klingelknopf und war froh, als prompt der Summer ertönte. Im dämmrigen Hausflur wartete sie darauf, dass ihr Herzschlag wieder langsamer wurde. Hatte sie wirklich gerade einem völlig Fremden ihren Namen verraten?
Oide Spinatwachtl!, schimpfte sie sich streng, während sie ihre Jacke zurechtzupfte und die duftenden Rohrnudeln in der Tasche an die richtige Stelle schob. Solchene Frühlingsgefühle, und des in dem Alter! Wo kemma denn da hin?
Doch Vronis Mundwinkel blieben hartnäckig nach oben gekräuselt, während sie die Treppe hinauf in den zweiten Stock stieg.
28
Gammelfleisch
E ines musste man der Weidinger, diesem inkarnierten Kinder schreck auf zwei zaundürren Beinen, allerdings lassen: Sie hatte nicht übertrieben.
Schon im Treppenhaus der Genossenschaftsanlage in der Werinherstraße schlug Sofie und Joe ein süßlich riechender, widerlicher Geruch entgegen.
Kopfschüttelnd fixierte Joe den dicklichen, kleinwüchsigen Hausmeister.
»Sagens amal, ist Ihnen des ned komisch vorkommen, dass es hier derart streng riecht?«
Wenn es noch eine Steigerung in Sachen rote Gesichtsfarbe gab, dann jetzt. Die Wangen des Mannes wechselten von einem zarten Apfelton über Kirsche hin zu tiefem Karminrot – ein interessanter Kontrast zum Purpur der knolligen, von roten Äderchen und tiefen Kratern durchzogenen Nase.
Nachlässig mochte der Bursche vielleicht sein. Sicher aber gehörten zwei, drei Humpen Bier pro Tag garantiert zu seinem eisernen Pflichtprogramm. Ein klassischer Herzinfarktkandidat. Und bedauernswerter Anwärter auf einen baldigen Platz in den Kühlschubladen der Kollegen von der Pathologie.
»Mei, wenn Sie wüssten, wie viel Arbeit ich hier hab, Herr Kommissar! Sogar heut, am ersten Mai. Da kann man sich wirklich nicht um alles kümmern. Des könnens mir glauben.«
»Kennen Sie denn den Mieter der Wohnung?«
Unsicher fuhr der Mann sich durch die letzten verbliebenen Haare auf seinem ansonsten blanken Schädel.
»Tuat ma leid. Des kann ich Ihnen auch nicht sagen. Da müssens schon die Hausverwaltung fragen.«
Inzwischen waren Joe und Sofie vor der Wohnung im
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