Die Kalte Sofie
konnte.
Sie drosselte ihr Tempo und fand schließlich einen Rhythmus, der das Gehen halbwegs erträglich machte. Trotzdem war sie gottfroh, als sie endlich unten angelangt war.
Jetzt folgte sie ein Stück der Bahnlinie und bog dann in die Kühbachstraße ein, die auf den Hans-Mielich-Platz zulief. Frisch gestrichene Häuserfronten, viele der Dachgeschosse ausgebaut – mit jedem Schritt war zu spüren, dass sich hier nach und nach hippe Singles mit einem fetten Bankkonto breitmachten, ohne Scheu vor teuren Mieten. Mit ihnen veränderte sich auch das Gesicht des ehemaligen Kleineleuteviertels drastisch – eine Entwicklung, die die Alteingesessenen, unter ihnen auch viele Migranten, sorgenvoll beobachteten, ohne dagegen einschreiten zu können.
Musikfetzen flogen Vroni entgegen und verdichteten sich beim Näherkommen zu einer schmissigen Melodie, die ihr sofort in die Beine fuhr.
Der Platz, eigentlich eine städtebauliche Todsünde, wie die echten Giesinger fanden, glich heute einem venezianischen Campo. Rings um den mächtigen Maibaum, der weiß und blau gen Himmel strebte, waren Biertische und Bänke aufgestellt, die bereits gut besetzt waren. Kinder kreischten, Hunde kläfften, es roch nach Bratwürsten, die vor dem »Café Lü« auf einem großen Rost brutzelten.
»Wollens Eahna ned hersetzn?«, rief eine gnadenlos blondierte Frau mittleren Alters, die Vronis Zögern bemerkt zu haben schien. »Bei uns is a jeder willkommen.«
»Koa Zeit«, sagte Vroni bedauernd. »Leider! Ich werd nämlich scho erwartet.«
»A geh! An so am schönen Tag. Wenigstens auf a Halbe …«
»Wirklich ned. Schon gar ned mitten am Tag«, lehnte Vroni ab.
»Aber a Haferl Kaffee werd doch grad no drin sei.« Die Frau rutschte zur Seite. »So jung kemma mir nimmer zsamm!«
Jetzt saß sie doch.
Ein dunkel gestromter Schäferhund kam angelaufen und schob seinen Kopf auf ihr Knie. Nach kurzem Zögern begann sie ihn zu streicheln, doch ein scharfer Pfiff seines Herrchens, einem unangenehmen Typ im Jogginganzug und mit verspiegelter Sonnenbrille, rief ihn wieder weg.
Der Kaffee, der eine Sekunde später dampfend vor ihr stand, schmeckte Vroni.
»Und? Sans zufrieden mit der neuen Farb? Steht Eahna echt guad, find ich.«
Stirnrunzelnd blickte Vroni von ihrer Tasse auf – ausgerechnet Manu, Joes Schwester, die das mehr als zweifelhafte Wunder aufs Vronis Kopf vollbracht hatte. Daran hatten auch mehrfache Haarwäschen im Nachhinein nichts ändern können.
Manu nahm Vronis Zögern ganz selbstverständlich als Zustimmung. »Gfreit mi, dass es Eahna gfällt. Geht halt nix über an frischen Wind, sag ich immer. Und dafür san mir Hair-Stylisten ja schließlich da. Apropos: Wie geht’s eigentlich der Sofie? Von der hört man ja gar nix. Gfällt ihr der neue Job?«
Vroni nickte nachdenklich. Das schon, soweit sie das mitbekam. Aber Arbeit war auch nur das halbe Leben …
Um den Maibaum herum war Bewegung entstanden. Sechs junge Paare, die Madln im schwarzen Dirndl mit bunter Schürze, die Burschen in Leinenhemd und Lederhose, stellten sich zum Tanz auf.
Verstohlen folgte Manu Vronis Blick und schüttelte scheinbar betrübt den Kopf. »Mir hat’s ja schier das Herz zerrissen, als des mit dem Joe und der Sofie in die Brüche gangen is, damals. Aber es hat halt einfach nicht sollen sein.«
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und wurde nervös.
»Jessas! Jetzt muass i aber wirklich wieder weiter, des Essen für meine Familie richten. Nix als Arbeit hat unsereins. Und des sieben Tage di Woch.«
Seufzend stand sie auf und griff nach ihrer unförmigen, zerbeulten Handtasche in Lilametallic.
»Hat mich sehr gefreut, unser kleiner Ratsch, Frau Ilmberger. Grüßens die Sofie recht herzlich von mir, gell. Und falls sie mal an Schnitt oder a neue Farb braucht – jederzeit. Natürlich zum Freundschaftspreis!«
Ein letztes überschwängliches Händeschütteln, dann stob sie davon.
Überrumpelt sah Vroni ihr nach, als nun die Musiker, fünf Bläser und einer mit einer uralten Ziehharmonika, erneut munter loslegten.
Ein Zwiefacher. Die Paare setzten sich in Bewegung, nicht ganz synchron, aber durchaus anmutig.
Manus Worte hallten in Vroni nach. Ob die Sofie und der Joe wirklich nicht mehr zusammenkommen würden? Sie hatte ja alles vermasselt, vor zwei Tagen bei der Einladung. Nicht einmal ihr berühmtes Hendl hatte da noch was rausreißen können, und auch nicht ihre stillen Gebete und das Kerzerl vor der Muttergottes …
Die Musik
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