Die Kalte Sofie
warf.
Schon so spät!
Und ihr schöner Pullover?
War garantiert schon in der Tasche einer anderen Kundin gelandet, während Frau Rosenhuth mal wieder auf eigene Faust irgendeine Schnapsidee verfolgt hatte. Aber vielleicht war das gute Stück ja doch noch da, wenn sie sich ranhielt.
Auf dem Weg zu ihrem Fahrrad fiel Sofie ein alter brauner Mercedes Diesel auf, der hinter den beiden Lastwagen parkte.
Die Fahrertür stand offen …
Neugierig trat sie näher.
Hinter dem Lenkrad zusammengesunken saß Wolfgang Gfeiter, vor Schmerzen gekrümmt, die Augen verdreht, Schaum vor dem Mund, in der leblosen Hand – ein glitzerndes Bonbonpapier.
55
Um ein Haar
D arauf hatte sie seit einer kleinen Ewigkeit gewartet.
Dass die Krankenschwester beim Verlassen der Wachstation die Tür nicht vollständig schloss.
Sie stieß sich von der Wand ab und schlug die Kapuze zurück. Zum Unsichtbarmachen hatte der Hoodie prima getaugt, jetzt freilich wollte sie aussehen wie eine ganz normale Besucherin.
Ihre Beine waren ganz steif geworden. Der kurze Weg erschien ihr viel zu lang. Dann war sie endlich drin.
Hässliche Stoffparavents unterteilten die toxikologische Intensivstation in fünf verschiedene Zonen. Nur drei waren mit je einem Patientenbett besetzt.
Sie entdeckte ihn auf Anhieb.
Über seinem Bett ein Bord mit blinkenden Anzeigen, jeder Menge Schaltern und summenden Apparaturen. In seiner breiten Nase die Stöpsel der Sauerstoffmaske. Links von ihm Messgeräte für Blutdruck und Herzfrequenz, auf denen ständig grüne Leuchtziffern und Kurven wechselten. Rechts ein Ständer mit einer Infusionsflasche mit rötlichem Inhalt, von der ein Gummischlauch unter die Bettdecke verlief.
Ein hässlicher beiger Plastikstuhl stand neben dem Bett, als hätte er schon auf sie gewartet. Sie ließ sich darauf nieder. Im Hintergrund sortierten zwei Krankenschwestern ein Tablett mit Kanülen und Verbandszeug. Angestrengt nickte sie in deren Richtung.
Seine Haut war fahl, was ihn in ihren Augen noch widerlicher erscheinen ließ. Außerdem zuckte sein rechtes Lid, blieb zum Glück aber geschlossen, ebenso wie das linke.
Er war noch immer am Leben.
Leider.
»Hat also beim ersten Anlauf nicht ganz geklappt«, sagte sie leise. »Macht nix. Jetzt bin ich ja da.«
Sein Mund klappte auf.
Ob Menschen im Koma schnarchen konnten?
War keine große Schwierigkeit gewesen herauszubekommen, wohin sie ihn gebracht hatten. Klinikum Rechts der Isar, die beste Adresse für akute Vergiftungsfälle.
»Hatte ich dir nicht versprochen, dass ich dich überall finde? Deine tägliche Strecke? Deine Lieblingsplätze? Wie eingebrannt in meinem Hirn.«
Sie spürte einen Luftzug und fuhr herum.
»Sie sind eine Angehörige von Herrn Gfeiter?« Die Stimme der Schwester war schroff.
»Die Nichte«, murmelte sie, obwohl die Vorstellung sie fast körperlich schmerzte. »Die anderen kommen später …«
»Dann warten Sie beim nächsten Mal gefälligst vor der Tür, bis Sie hereingebeten werden!«
»Geht klar«, nuschelte sie und wandte sich wieder dem Bett zu. »Er ist bis jetzt also noch nicht …?
»Nein.« Die Schwester wurde eine Spur freundlicher. »Aber seine Werte sind stabil. Er kann Sie spüren. Und auch hören, denke ich. Lang dürfen Sie trotzdem nicht bleiben. Er braucht vor allem Ruhe.«
»Die soll er haben«, sagte sie in den Rücken der Schwester hinein, die sich wieder entfernte. »Von mir aus gern.«
Sie zog das Foto heraus und legte es auf die Bettdecke.
»Das kennst du ja inzwischen nur zu gut, gell?«, sagte sie. »Hab ich nur für dich bei den toten Viechern dazugelegt, zusammen mit den Guttis. Und? Wie fühlt sie sich an, die Erinnerung an Annamirl? Ihr Leben war nach jenem Tag zu Ende. Nie mehr hab ich meine Schwester wieder lachen sehen. Nach deinem Freispruch hast du fies gegrinst. Ihre Augen aber waren wie erloschen. Danach ist sie auf und davon …«
Ihre dünnen Hände waren unablässig in Bewegung.
»Aber mein Schwesterherz war dir noch nicht einmal genug. Um ein Haar hätt des andere Madl auch noch dran glauben müssen, wenn ich nicht auf dich losgegangen wär.«
In ihrer Erregung war sie lauter geworden und gab sich nun alle Mühe, die Stimme wieder zu senken.
»Ja, ich bin dir gefolgt. Als dein unsichtbarer Schatten. Dein schwarzer Engel, dem du nicht entkommst. Haben die Tierkadaver dir Angst gemacht? Genau das hatte ich vor. Aber erst, als ich mich dir gezeigt habe, hast dus dann endlich ganz kapiert. Und deswegen auch
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