Die Kalte Zeit
rief er schon aus einiger Entfernung. »Ich muss zum Umschlagplatz. Bei uns ist heute Großkampftag!«
»Es wird nicht lange dauern«, sagte Zagrosek.
»Rocco ist schon wieder irgendwo hin verschwunden. Er sollte mir helfen.« Graupner seufzte. »Also dann, kommen Sie kurz rein.«
Zagrosek und Blessing klopften den Matsch von ihren Schuhen an der Fußmatte ab.
Sie setzten sich ins Wohnzimmer, alle ließen die Jacken an.
»Gesa Hendricks sagt, Sie und Konrad Verhoeven waren früher mal enge Freunde«, begann Zagrosek. »Sie haben das etwas anders dargestellt. Warum?«
Graupner rieb über seinen Nasenrücken. »Warum soll ich Ihnen Sachen erzählen, die Jahrzehnte zurückliegen? Und die für Ihre Ermittlungen nicht die geringste Rolle spielen?«
»Wir entscheiden lieber selbst, was für uns eine Rolle spielt.« Zagrosek betrachtete die weiße Zackenlinie auf Graupners Lederstiefeln, die das Streusalz hinterlassen hatte. Eine verschneite Gebirgskette. »Vor längerer Zeit, bei einem Schützenfest, haben Sie Verhoeven Vorwürfe gemacht: Er sei ein Schwein, wenn er mit seiner Schuld leben könne. Was haben Sie gemeint? Dass er den Pflücker bei Sturm in den Baum geschickt hat?«
Graupner schwieg, sah auf seine Uhr.
»Hat er damit Schuld auf sich geladen? Er konnte den Tod des Mannes ja nicht vorhersehen. Er hat doch sicher nicht gewollt, dass ihm was passiert? Wieso machen Sie ihn verantwortlich?«
»War es nicht eher ein tragischer Unfall?«, fügte Blessing hinzu.
Graupner blickte zu Boden. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich wünschte, es wäre so gewesen. Konrad war der Mensch, der mir am nächsten stand damals. Wir haben hier gemeinsam angefangen mit dem Weihnachtsbaumanbau. Konrads Vater hatte bereits die Landwirtschaft gehabt, und ich habe die Flächen mit dem Geld einer Erbschaft erworben. Wir waren beide frisch verheiratet, Gesa war erst ein paar Monate alt, meine Frau und ich wünschten uns auch ein Kind. Wir waren in der gleichen Lebenssituation, haben uns über alles und jedes ausgetauscht, gemeinsam Maschinen angeschafft, Saatgut gekauft. Dann kamen die Fahrten nach Georgien . . .« Graupner sah aus dem Fenster, seinen Zeitdruck schien er vergessen zu haben. »Unser Pflücker, Lewan Tsiklauri, hatte eine Frau, sie hieß Mara. Er nannte sie Marissa. Sie hatten einen zweijährigen Sohn. Mara war eine ungewöhnliche Frau, schön und sehr still. Schüchtern, verstehen Sie. Sie hatte uns aber mit großer Herzlichkeit aufgenommen. Die Georgier sind sowieso sehr gastfreundlich. Und das, obwohl die Pflücker nur einen Hungerlohn für diesen Knochenjob bekommen. Da herrscht eine Armut, das können Sie sich kaum vorstellen. Die Schule ist eine Baracke ohne Fenster. Das nächste Krankenhaus ist kaum zu erreichen. Und dann die Gefahr, der sich die Pflücker aussetzen. Die klettern ohne Sicherheitsausrüstung in die Baumspitzen, die sind nicht mal angeleint. Immer wieder passieren Unfälle. Leute stürzen ab. Bis heute ist das so. Eine Schande. Und die Deutschen, die Heiligabend ihre Kugeln in den Baum hängen und die Kerzen anzünden, ahnen nichts davon, unter welch unmenschlichen Bedingungen der Samen zu ihrem Baum geerntet wurde.«
»Okay, erzählen Sie uns über Mara«, sagte Zagrosek.
»Konrad hat ein Verhältnis mit ihr angefangen. Ich weiß bis heute nicht, ob sie aus freien Stücken darauf eingegangen ist, oder ob er sie genötigt hat. So wie er Lewan nötigte, an seinem Todestag in diese Tanne zu klettern. Die Situation war pervers. Ich glaube, Lewan spürte, was da vor sich geht, aber die ganze Familie war von uns abhängig, von unserem Geld.« Er schloss kurz die Augen. »Ich habe mich geschämt, verstehen Sie? Aber es kam noch schlimmer. Mara wurde zum zweiten Mal schwanger, und Konrad hat sie angeschrieen und gedemütigt. Er war eifersüchtig, dass sie weiterhin mit Lewan geschlafen hat. Aber was hätte sie denn machen sollen? Ich habe das noch niemals ausgesprochen, aber ich glaube, dass Konrad Lewan bewusst dieser Todesgefahr ausgesetzt hat. Er wollte seinen Rivalen aus dem Weg räumen. Und das, obwohl Konrad niemals vorhatte, mit Mara eine feste Beziehung einzugehen. Er war ja selbst verheiratet, mit Anna.« Graupner stand auf und ging zur Schrankwand. »Wir haben Mara zurückgelassen. Als Witwe mit zwei Kindern. Mittellos.« Graupners Handy klingelte, aber er ignorierte es, starrte vor sich auf den Boden. »Ich mache mir bis heute Vorwürfe, dass ich nie wieder dort gewesen bin. Wir hätten
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