Die Kalte Zeit
Und diesmal – keine Verarschung mehr.«
»Okay, ich komme«, sagte Wolf und fuhr sich mit der Hand über die Augen. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Wolf musste sich beeilen, er wollte Guram nicht reizen. Aber Schäffer durfte die Lampe nicht bekommen.
»Danke Felix, gib sie mir nun zurück und geh zu Mama«, sagte Wolf streng. »Ich muss noch zu einem Kunden. Dringend.«
Er nahm Felix die Lampe aus der Hand und wartete, bis sein Sohn durch die Luke hinab gestiegen war. Dann kletterte er selbst auf die Leiter.
»Passen Sie gut auf sich auf, Herr Hendricks«, sagte Schäffer und steckte sich eine neue Zigarette an.
Es war nun dunkel zwischen den Heuballen. Wolf sah das rote, glühende Pünktchen vor Schäffers Gesicht aufleuchten und wieder verglühen. Er stieg die Leiter hinab und verließ den Hof der Martinis.
Gesa saß am Küchentisch, ihre Augen brannten vom Weinen.
Anna wirbelte mit einem Handfeger um sie herum. »Wie sieht das hier oben aus! Und dich finde ich am helllichten Tage im Bett!« Sie griff nach dem Kehrblech. »Überall Tannensamen. In jeder Ritze sind welche.«
Gesa hob den Kopf. »Lass doch, ich hole gleich den Staubsauger rauf.«
»Gar nichts holst du!« Anna öffnete den Küchenschrank unter der Spüle, zog den Mülleimer hervor und kippte Samen vom Kehrblech hinein. »Die Polizei ist gleich da. Was sollen die denn von uns denken.«
Unten klopfte es laut an die Hoftür.
»Augenblick!« Anna band ihre Schürze ab und lief die Treppe hinunter.
Einige Augenblicke später trat der blonde Kommissar ein. Zagrosek. Sein Name fiel Gesa erst nach einem Moment wieder ein. Er hatte einen wesentlich älteren Kollegen dabei, der schlecht gelaunt wirkte und sich als Werner Kleinschmidt vorstellte. Gesa rieb ihren Augenwinkel, um mit der Handfläche ihre lädierte Gesichtshälfte verbergen zu können. Aber gleich würden sie es sowieso entdecken. Als sie den Arm sinken ließ, veränderte sich Zagroseks Gesichtsausdruck, nahm eine Mischung aus Erschrecken und Misstrauen an. Er musterte ihre Hämatome, die zwischen lila, grün und gelb auf der angeschwollenen Haut schillerten.
Gesa bot Kaffee an. Milch, Zucker? Selbst die bescheidensten Höflichkeitsfloskeln kosteten sie eine übermenschliche Kraft. Anna drückte sie auf ihren Küchenstuhl zurück und hantierte an der Kaffeemaschine herum.
Gesa fühlte sich weiter von Zagrosek beobachtet. Musste er sie die ganze Zeit so anstarren? Und natürlich fragte er.
»Was ist mit Ihrem Gesicht passiert?«
»Mein Mann und ich hatten einen kleinen Streit. Nichts Ernstes. Er hatte beim Schützentreffen einen über den Durst getrunken. Und als ich gemeckert habe, dass er so spät nach Hause kommt, ist ihm die Hand ausgerutscht.«
»Kommt das öfters vor?«
Gesa bemerkte Annas Blick, der durch den Raum huschte wie eine Maus auf der Flucht und Gesas Gesicht nur streifte. »Nein«, antworte sie und war froh, dass sie diesmal nicht lügen musste, »nein, das ist noch nie vorgekommen.«
Der Kommissar sah nicht sehr zufrieden aus. Er wechselte einen Blick mit seinem älteren Kollegen. Anna umkreiste den Tisch, rückte die leeren Stühle heran. Gesa machte dieser Aktionismus wahnsinnig. Konnte sich Anna nicht für einen Moment setzen und ruhig verhalten?
»Wir haben mit Dr. Bohnen in Büttgen gesprochen«, sagte Kleinschmidt. »Konrad Verhoeven war am dritten Dezember bei ihm und hat erfahren, wie ernst sein Zustand war. Der Krebs war unheilbar. Bohnen hatte ihn zu einem Spezialisten in die Uniklinik überwiesen. Dort hat sich Ihr Vater nicht gemeldet.«
»Am dritten Dezember? Das war einen Tag, bevor er gestorben ist«, sagte Gesa.
»Gesa, da liegt ja Glas!« Anna hatte die Scherben von Gesas Küchenuhr zwischen Herd und Spüle entdeckt. Sie versuchte sie mit dem Griff des Handfegers herauszufischen.
Zagrosek ließ Gesa nicht aus dem Blick. »Er hat mit Ihnen beiden nicht über die Diagnose gesprochen. Warum nicht? Was glauben Sie? Was könnte in Ihrem Vater vorgegangen sein?«
Gesa fror. Sie wusste keine Antwort. Zumindest keine, die ein Fremder verstehen würde.
Der ältere Kommissar räusperte sich. »Frau Hendricks, auch ich habe vor einem halben Jahr eine Krebsdiagnose bekommen. Ich erinnere mich an den Moment, wo der Arzt es mir sagte. Ich habe schlagartig begriffen, dass mein altes Leben beendet ist, dass es niemals mehr so sein wird wie zuvor. Aber ich erfuhr auch, dass ich geheilt werden kann. Ihrem Vater wurde diese
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