Die Kammer
hilflos. Es war ein kleiner Sieg.
Er stand auf und streckte sich. Sein Bett bestand aus einem Stück Schaumstoff, einsachtzig mal fünfundsechzig und zehn Zentimeter dick, das als Matratze bezeichnet wurde. Es lag auf einem sicher an Wand und Fußboden befestigten Metallrahmen. Darauf lagen zwei Laken. Im Winter wurden manchmal Decken ausgegeben. Rückenschmerzen waren weit verbreitet im Trakt, aber mit der Zeit gewöhnte sich der Körper daran, und es gab nur wenige Klagen. Der Gefängnisarzt galt nicht gerade als Freund der Todeskandidaten.
Sam tat zwei Schritte und lehnte sich mit den Ellenbogen gegen die Gitterstäbe. So lauschte er dem Wind und dem Donner und schaute zu, wie die Tropfen auf der Fensterbank entlanghüpften und auf den Boden spritzten. Wie sschön wäre es, wenn er durch diese Wand und auf der anderen Seite durch das nasse Gras gehen und im strömenden Regen auf dem Gefängnisgelände herumwandern könnte, nackt und verrückt und klatschnaß, und ihm das Wasser von Kopf und Bart herabrinnen würde.
Das Grauenhafte am Todestrakt ist, daß man jeden Tag ein wenig mehr stirbt. Das Warten bringt einen um. Man lebt in einem Käfig, und wenn man aufwacht, hakt man einen weiteren Tag ab und sagt sich, daß man jetzt dem Tod wieder einen Tag näher ist.
Sam zündete sich eine Zigarette an und beobachtete, wie der Rauch den Regentropfen entgegendriftete. In diesem absurden Rechtssystem passieren die verrücktesten Dinge. Die Gerichte entscheiden an einem Tag so und am nächsten genau entgegengesetzt. Die gleichen Richter treffen bei denselben Problemen ganz verschiedene Entscheidungen. Ein Gericht ignoriert jahrelang einen auf gut Glück gestellten Antrag oder eine Berufung, und eines Tages wird dann über die Sache verhandelt und dem Antrag entsprochen. Richter sterben und werden durch Richter ersetzt, die anderer Ansicht sind. Präsidenten kommen und gehen und ernennen ihre guten Freunde. Das Oberste Bundesgericht tendiert mal in die eine und dann wieder in die andere Richtung.
Es gab Zeiten, in denen Sam der Tod willkommen gewesen wäre. Und wenn er die Wahl zwischen dem Tod auf der einen und dem Leben im Todestrakt auf der anderen Seite gehabt hätte, dann hätte er sich schnell für das Gas entschieden. Aber da war immer die Hoffnung, immer die schwach funkelnde Möglichkeit, daß irgendeine Kleinigkeit irgendwo in diesem riesigen, undurchdringlichen juristischen Dschungel bei jemandem eine Saite anklingen lassen und das Todesurteil aufgehoben werden würde. Sämtliche Insassen der Todeszellen träumten davon, daß der Himmel ein Wunder geschehen ließe. Und diese Träume hielten sie von einem elenden Tag zum anderen aufrecht.
Sam hatte kürzlich gelesen, daß in Amerika fast zweitausendfünfhundert Menschen in Todeszellen saßen, und im vorigen Jahr, 1989, waren nur sechzehn hingerichtet worden. Mississippi hatte seit 1977 nur vier hingerichtet, das war das Jahr gewesen, in dem Gary Gilmore in Utah auf einem Erschießungskommando bestanden hatte. Es lag Sicherheit in diesen Zahlen. Sie bestätigten ihn in seinem Entschluß, noch mehr Rechtsmittel einzulegen.
Er rauchte durch die Gitterstäbe hindurch, während das Gewitter weiterzog und der Regen aufhörte. Als die Sonne aufging, nahm er sein Frühstück entgegen, und um sieben stellte er für die Morgennachrichten den Fernseher an. Er hatte gerade in eine Scheibe kalten Toast gebissen, als plötzlich sein Gesicht auf dem Bildschirm erschien, hinter dem einer Moderatorin. Sie berichtete fast atemlos über den Knüller des Tages, den bizarren Fall von Sam Cayhall und seinem neuen Anwalt. Allem Anschein nach war dieser neue Anwalt sein lange verschollener Enkel, ein gewisser Adam Hall, ein junger Mitarbeiter von Kravitz & Bane in Chicago, derselben Firma, die Sam in den letzten sieben Jahren vertreten hatte. Das Foto von Sam war mindestens zehn Jahre alt und dasselbe, das sie immer benutzt hatten, wenn im Fernsehen oder den Printmedien sein Name erwähnt worden war. Das Foto von Adam war ein bißchen merkwürdiger. Ganz offensichtlich hatte er nicht dafür posiert. Jemand hatte es ohne sein Wissen im Freien aufgenommen. Die Moderatorin erklärte mit funkelnden Augen, die Memphis Press habe in ihrer Morgenausgabe berichtet, daß Adam Hall in der Tat der Enkel von Sam Cayhall sei. Sie lieferte eine kurze Rückschau auf Sams Verbrechen und nannte zweimal den Tag seiner Hinrichtung. Mehr zu dieser Story später, vielleicht schon in den
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