Die Kammer
Lees Schlafzimmer. Adam hatte versucht, sie zu vergessen, es aber nicht gekonnt. Seit nunmehr zehn Tagen hatte wegen des Buchs in ihrer Schublade eine stumme Schlacht in ihm getobt. Sie war betrunken gewesen, als sie ihm von dem Foto von dem Lynchmord erzählt hatte, aber es war nicht das wirre Geschwätz einer Trinkerin gewesen. Adam wußte, daß das Buch existierte. Da lag ein reales Buch mit dem realen Foto eines jungen Schwarzen, der an einem Seil hing, und zu seinen Füßen stand eine Gruppe stolzer Weißer, die in die Kamera grinsten und keinerlei Strafverfolgung zu befürchten hatten. Adam hatte sich das Bild im Geiste ausgemalt, hatte Gesichter hinzugefügt, den Baum skizziert, das Seil gezeichnet, einen Text daruntergesetzt. Aber es gab ein paar Dinge, die er nicht wußte und sich nicht vorstellen konnte. War das Gesicht des Toten zu erkennen? Trug er Schuhe, oder war er barfuß? War Sam in so jungen Jahren ohne weiteres zu erkennen? Wie viele weiße Gesichter waren auf dem Foto zu sehen? Und wie alt waren sie? Waren Frauen dabei? Irgendwelche Waffen? Blut? Lee hatte gesagt, er wäre ausgepeitscht worden. War die Peitsche auf dem Foto zu sehen? Er hatte sich das Bild seit Tagen vorgestellt, und jetzt war es an der Zeit, endlich einen Blick in das Buch zu werfen. Er konnte es nicht mehr aufschieben. Lee konnte geheilt zurückkehren. Sie konnte das Buch woanders hinlegen, es von neuem verstecken. Er hatte vor, die nächsten zwei oder drei Nächte hier zu verbringen, aber das konnte sich mit einem Telefonanruf ändern. Er konnte gezwungen sein, nach Jackson zu fahren oder in Parchman in seinem Wagen zu schlafen. Selbst alltägliche Verrichtungen wie Essen und Schlafen mußten dem Zufall überlassen bleiben, wenn ein Mandant nur noch ein paar Tage zu leben hatte.
Eine so gute Gelegenheit würde sich nicht noch einmal bieten, und er kam zu dem Schluß, daß er jetzt bereit war, der Bande von Lynchmördern ins Auge zu sehen. Er ging zur Vordertür und suchte den Parkplatz ab, um sich zu vergewissern, daß sie nicht plötzlich zurückgekommen war. Er schloß sogar die Schlafzimmertür ab, dann öffnete er die oberste Schublade. Sie enthielt ihre Unterwäsche, und dadurch wurde ihm erst richtig bewußt, daß er in ihre Privatsphäre eindrang.
Das Buch lag in der dritten Schublade auf einem ausgeblichenen Sweatshirt. Es war dick und in grünes Leinen gebunden - Schwarze in den Südstaaten zur Zeit der Wirtschaftskrise. Erschienen 1947 bei Toffler Press, Pittsburgh. Adam nahm es und setzte sich damit auf Lees Bettkante. Die Seiten waren sauber und makellos, als wäre das Buch noch nie von jemanden in der Hand gehalten oder gelesen worden. Wer im Tiefen Süden würde schon ein solches Buch lesen wollen? Und mochte sich das Buch auch schon seit Jahrzehnten im Besitz der Familie Cayhall befinden, so war Adam doch überzeugt, daß es nie gelesen worden war. Er betrachtete den Einband und fragte sich, unter welchen Umständen ausgerechnet dieses Buch in Sam Cayhalls Familie gelangt war.
Das Buch hatte drei Bildteile. Der erste enthielt Fotos der armseligen Bruchbuden und elenden Schuppen, in denen die Schwarzen auf den Plantagen leben mußten. Es gab Familienporträts mit Dutzenden von Kindern, dazu die obligatorischen Aufnahmen von Farmarbeitern, die tief gebückt auf den Feldern standen und Baumwolle pflückten.
Der zweite Teil befand sich in der Mitte des Buches und umfaßte zwanzig Seiten. Er enthielt tatsächlich zwei Fotos von Lynchmorden. Das erste war eine wirklich grauenvolle Szene mit zwei Kluxern in Kutte und Kapuze, die Gewehre in der Hand hielten und für die Kamera posierten. Hinter ihnen hing an einem Seil ein Schwarzer, der offensichtlich furchtbar geschlagen worden war. Seine Augen waren halb offen, sein Gesicht entstellt und blutüberströmt. KKK Lynchmord im Herzen von Mississippi, 1939, lautete die Bildunterschrift, als ob sich diese Rituale einfach durch Ort und Zeit definieren ließen.
Das Foto war so grauenvoll, daß Adam entsetzt nach Luft schnappte, dann schlug er die nächste Seite auf und stieß gleich auf die zweite Lynchszene, die, mit der ersten verglichen, geradezu zahm wirkte. Der leblose Körper am Ende des Seils war nur von der Brust abwärts zu sehen. Das Hemd schien zerrissen zu sein, vermutlich von der Peitsche, wenn tatsächlich eine benutzt worden war. Der schwarze Mann war sehr mager, seine zu große Hose um die Taille herum fest zusammengeschnürt. Er trug keine Schuhe. Blut
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