Die Kammer
war nicht zu sehen. Das Seil, an dem er hing, mußte an einem Ast befestigt sein, dessen Ende im Hintergrund sichtbar war. Der Baum war groß, mit massigen Asten und einem dicken Stamm.
Nur Zentimeter unter den baumelnden Füßen hatte sich eine ausgelassene Gruppe versammelt. Männer, Frauen und Kinder posierten für die Kamera. Einige stellten in übertriebenen Posen ihre Wut und ihre Männlichkeit zur Schau - gerunzelte Stirn, funkelnde Augen, zusammengepreßte Lippen, als läge es einzig und allein an ihnen, ihre Frauen vor den Aggressionen der Neger zu schützen; andere lächelten und schienen zu kichern, insbesondere die Frauen, von denen zwei recht hübsch waren; ein kleiner Junge zielte mit einer Pis tole drohend auf die Kamera; ein junger Mann hielt eine Flasche Schnaps so in der Hand, daß man gerade noch das Etikett erkennen konnte. Die meisten Leute schienen sich regelrecht zu freuen, daß es zu diesem Ereignis gekommen war. Adam zählte siebzehn Personen, und jede einzelne von ihnen schaute ohne Scham oder Beunruhigung in die Kamera; nichts deutete darauf hin, daß gerade ein Verbrechen begangen worden war. Für sie galten die Gesetze nicht. Sie hatten gerade einen Menschen umgebracht, und es war nur zu offensichtlich, daß sie sich dabei keine Sekunde lang vor irgendwelchen Konsequenzen gefürchtet hatten.
Was man da sah, war ein Fest. Ein lauer Abend, mit Alkohol und hübschen Frauen obendrein. Bestimmt hatten sie Proviantkörbe dabei und würden jeden Momen Decken auf dem Boden ausbreiten und sich zu einem netten Picknick im Grünen unter einem Baum niederlassen.
Lynchmord im ländlichen Mississippi, 1936, lautete die Bildunterschrift.
Sam war in der vordersten Reihe. Er hatte sich zwischen zwei anderen jungen Männern auf ein Knie niedergelassen, und alle drei blickten direkt in die Kamera. Er war fünfzehn oder sechzehn und bemühte sich verzweifelt, sein schmales Gesicht gefährlich wirken zu lassen - gekräuselte Lippen, verkniffene Augenbrauen, hochgerecktes Kinn. Wie sich ein Junge eben übertrieben keck und prahlerisch in Positur wirft, der es den Erwachsenen um ihn herum unbedingt gleichtun will.
Er war leicht herauszufinden, weil jemand mit verblichener blauer Tinte eine Linie quer über das Foto bis zum Rand gezogen hatte, wo in Blockbuchstaben der Name Sam Cayhall stand. Die Linie kreuzte die Körper und Gesichter anderer und endete an Sams linkem Ohr. Eddie. Es mußte Eddie gewesen sein. Lee hatte gesagt, daß Eddie dieses Buch auf dem Dachboden gefunden hatte, und Adam hatte deutlich das Bild vor Augen, wie sein Vater sich im Dunkeln versteckte, über dem Foto weinte und schließlich Sam kenntlich machte, indem er den anklagenden Pfeil auf seinen Kopf richtete.
Lee hatte außerdem gesagt, daß Sams Vater der Anfü hrer dieser ausgelassenen Mörderbande gewesen war, aber Adam konnte ihn nicht ausmachen. Vielleicht hatte Eddie es auch nicht gekonnt, denn es gab keine weiteren Markierungen. Da waren mindestens sieben Männer, die alt genug waren, um Sams Vater zu sein. Wie viele von diesen Leuten waren Cayhalls? Sie hatte auch gesagt, daß seine Brüder mitgemacht hätten, und vielleicht hatte einer der jüngeren Männer Ähnlichkeit mit Sam; doch auch das ließ sich nicht mit Gewißheit sagen.
Er betrachtete die klaren, schönen Augen seines Großvaters, und das Herz tat ihm weh. Er war nur ein Junge, geboren und aufgewachsen in einer Familie, in der der Haß gegen Schwarze und andere zum normalen Leben gehörte. Wieviel davon konnte man ihm zum Vorwurf machen? Man brauchte sich nur die Leute um ihn herum anzusehen, seinen Vater, Familienangehörige, Freunde und Nachbarn, alle vermutlich ehrliche, arme, schwer arbeitende Leute, für einen Moment eingefangen am Ende einer grausamen Zeremonie, die in ihrer Gesellschaft alltäglich war. Sam hatte keine Chance gehabt. Das war die einzige Welt, die er kannte.
Wie sollte Adam es jemals schaffen, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu versöhnen? Wie konnte er gerecht urteilen über diese Leute und ihre entsetzliche Tat? Wenn er vierzig Jahre früher zur Welt gekommen wäre, hätte er mitten unter ihnen sein können; nur eine Laune des Schicksals hatte ihn davor bewahrt.
Während er so ihre Gesichter betrachtete, überkam ihn ein seltsames Gefühl des Trostes. Obwohl Sam offensichtlich ein williger Teilnehmer war, war er unter diesem Pöbel doch nur einer von vielen, nur teilweise schuldig. Ganz eindeutig hatten die älteren Männer mit
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