Die Kammer
hindurchfuhr. Der Bourbon fing an, ihn zu beruhigen.
»Laß uns über etwas anderes reden«, sagte Lee leise.
»Schon als ich noch ein kleiner Junge war«, sagte er, immer noch auf den Fluß schauend, »hat mich Geschichte fasziniert, die Art, wie die Leute in früheren Zeiten gelebt haben - die Pioniere, die Planwagenzüge, der Goldrausch, Cowboys und Indianer, die Besiedelung des Westens. Da war ein Junge in der vierten Klasse, der behauptete, sein Ur-Ur-Großvater hätte Züge überfallen und das Geld in Mexiko vergraben. Er wollte eine Bande zusammenstellen und davonlaufen und das Geld suchen. Wir wußten, daß er log, aber es machte eine Menge Spaß, darauf einzugehen. Ich habe mich oft gefragt, wer meine Vorfahren waren, und ich erinnere mich, daß ich nie wußte, woran ich war, weil ich offenbar keine hatte.«
»Was hat Eddie dazu gesagt?«
»Er hat behauptet, sie wären alle tot; sagte, auf Familiengeschichte würde mehr Zeit vergeudet als auf alles andere. Jedesmal, wenn ich Fragen über meine Familie stellte, nahm meine Mutter mich beiseite und sagte mir, ich sollte damit aufhören, weil es ihn aufregen und er wieder in eine seiner düsteren Stimmungen verfallen könnte und dann einen Monat nicht aus seinem Schlafzimmer herauskommen würde. Der größte Teil meiner Kindheit bestand darin, daß ich wie auf Eierschalen um meinen Vater herumgeschlichen bin. Als ich älter wurde, begann ich zu begreifen, daß er ein sehr merkwürdiger Mann war und sehr unglücklich, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß er Selbstmord begehen würde.«
Sie ließ ihr Eis klirren und trank den letzten Schluck. »Da steckt eine Menge dahinter, Adam.«
»Und wann wirst du es mir erzählen?«
Lee ergriff den Krug und goß wieder Tee in die Gläser. Adam füllte sie mit Bourbon auf. Mehrere Minuten vergingen, in denen sie tranken und den Verkehr auf dem Riverside Drive beobachteten.
»Warst du schon einmal im Todestrakt?« fragte er schließlich, immer noch mit Blick auf die Lichter am Ufer des Flusses.
»Nein«, sagte sie fast unhörbar.
»Er ist seit fast zehn Jahren dort, und du hast ihn nie besucht?«
»Ich habe ihm einmal einen Brief geschrieben, kurz nach seinem letzten Prozeß. Sechs Monate später hat er geantwortet und geschrieben, ich sollte nicht kommen. Sagte, er wollte nicht, daß ich ihn im Todestrakt sähe. Ich habe noch zwei weitere Briefe geschrieben, aber sie blieben beide unbeantwortet.«
„Das tut mir leid.«
»Es braucht dir nicht leid zu tun. Ich schleppe eine Menge Schuld mit mir herum, Adam, und es ist nicht leicht, darüber zu reden. Laß mir einfach ein bißchen Zeit.«
»Es kann sein, daß ich eine Weile in Memphis bleibe.«
»Ich möchte, daß du hier wohnst. Wir werden uns gegenseitig brauchen.« Sie zögerte und rührte mit dem Zeigefinger in ihrem Drink. »Ich meine, er wird sterben müssen, meinst du nicht?«
»Wahrscheinlich.«
»Wann?«
»In zwei oder drei Monaten. Seine Einspruchsmöglichkeiten sind praktisch erschöpft. Es ist nicht mehr viel übrig.«
»Weshalb willst du dich dann damit beschäftigen?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht deshalb, weil immer noch eine geringe Chance besteht. Ich werde in den nächsten paar Monaten arbeiten wie ein Besessener und um ein kleines Wunder beten.«
»Ich werde auch beten«, sagte sie und trank noch einen Schluck.
»Können wir über etwas anderes sprechen?« fragte er und sah sie nun doch plötzlich an.
»Klar.«
»Lebst du hier allein? Ich finde, das ist eine faire Frage, wenn ich bei dir wohnen soll.«
»Ich lebe allein. Mein Mann wohnt in unserem Landhaus.«
»Und lebt er auch allein? Ich bin nur neugierig.«
»Gelegentlich. Er mag junge Mädchen, Anfang Zwanzig, gewöhnlich Angestellte in seinen Banken. Er erwartet von mir, daß ich anrufe, bevor ich in das Haus fahre. Und ich erwarte von ihm, daß er anruft, bevor er hierher kommt.«
»Hübsch und praktisch. Wer hat diese Vereinbarung ausgehandelt?«
»Das hat sich im Laufe der Zeit so ergeben. Wir leben seit fünfzehn Jahren nicht mehr zusammen.«
»Schöne Ehe.«
»Im Grunde funktioniert sie recht gut. Ich nehme sein Geld und stelle keine Fragen über sein Privatleben. Wir absolvieren die unerläßlichen gesellschaftlichen Auftritte gemeinsam, und er ist glücklich.«
»Bist du glücklich?«
»Meistens.«
»Wenn er dich betrügt, warum reichst du dann nicht die Scheidung ein und machst Schluß mit ihm? Ich würde dich vertreten.«
»Eine Scheidung würde
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