Die Kammer
aber die Anrufe und Briefe von ihr kamen in immer größeren Abständen. Die Verheißung einer neuen Verwandtschaftsbeziehung verblaßte allmählich. Ihre Mutter entschuldigte sie. Sie sagte, Lee wäre ein guter Mensch, aber trotzdem eine Cayhall und deshalb anfällig für ein gewisses Maß an Schwermut und Seltsamkeit. Adam war nahezu verzweifelt.
Im Sommer nach seinem Abschluß in Pepperdine fuhren Adam und ein Freund quer durch das Land nach Key West. Sie machten in Memphis Station und verbrachten zwei Nächte bei Tante Lee. Sie lebte allein in einer geräumigen, modernen Eigentumswohnung auf dem Steilufer oberhalb des Flusses, und sie saßen stundenlang auf der Terrasse, nur sie drei, aßen selbstgebackene Pizza, tranken Bier, schauten den Schleppern nach und redeten über alles mögliche. Die Familie wurde nie erwähnt. Adam freute sich auf das Jurastudium, und Lee war voller Fragen über seine Zukunft. Sie war fröhlich und munter und redelustig und die perfekte Tante und Gastgeberin. Als sie sich von ihr verabschiedeten, hatte sie Tränen in den Augen; und sie bat ihn, sie wieder zu besuchen.
Adam und sein Freund mieden Mississippi. Statt dessen fuhren sie nach Westen, durch Tennessee und die Smoky Mountains. Einmal waren sie, nach Adams Berechnung, nur rund hundertfünfzig Kilometer von Parchman und dem Todestrakt und Sam Cayhall entfernt. Das war vor vier Jahren gewesen, im Sommer 1986, und er besaß bereits einen großen Karton voll Material über seinen Großvater. Das Video war fast vollständig.
Ihr Telefongespräch am Vorabend war kurz gewesen. Adam sagte, er würde ein paar Monate in Memphis verbringen, und er würde sie gern sehen. Lee lud ihn in ihre Wohnung ein, die auf dem Steilufer, wo sie vier Schlafzimmer und ein Teilzeitmädchen hatte. Sie bestand darauf, daß Adam bei ihr wohnen sollte. Dann sagte er, daß er in dem Büro in Memphis arbeiten würde, und zwar an Sams Fall. Daraufhin trat am anderen Ende Schweigen ein, dann kam ein mattes Angebot, trotzdem zu kommen, und sie würden darüber reden.
Ein paar Minuten nach neun drückte Adam auf ihre Klingel und warf einen Blick auf sein schwarzes Saab-Kabrio. Die Anlage bestand aus einer Reihe von zwanzig nebeneinander liegenden Wohnungen mit roten Ziegeldächern. Eine dicke, von einem schweren Eisengitter gekrönte Mauer schützte die Bewohner vor den Gefahren der Innenstadt von Memphis. Ein bewaffneter Wachmann hütete das einzige Tor. Ohne den Blick auf den Fluß auf der anderen Seite wären die Wohnungen praktisch wertlos gewesen.
Lee öffnete die Tür, und sie küßten sich gegenseitig auf die Wange. »Willkommen«, sagte sie, warf einen Blick auf den Parkplatz und schloß dann hinter ihm die Tür wieder ab. »Bist du müde?«
»Nicht sehr. Die Fahrt dauert rund zehn Stunden, aber ich habe zwölf gebraucht. Ich hatte es nicht eilig.«
»Hast du Hunger?«
»Nein. Ich habe vor ein paar Stunden etwas gegessen.« Er folgte ihr ins Wohnzimmer, wo sie einander gegenüberstanden und versuchten, sich etwas Angemessenes einfallen zu lassen. Sie war fast fünfzig und in den letzten vier Jahren stark gealtert. Das Haar war jetzt eine Mischung aus Grau und Braun zu gleichen Teilen und wesentlich länger. Sie hatte es zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre sanften blauen Augen waren gerötet und bekümmert und von mehr Falten umgeben. Sie trug ein übergroßes Baumwollhemd und verblichene Jeans. Lee war immer noch cool.
»Ich freue mich, dich zu sehen«, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln.
»Wirklich?«
»Natürlich. Laß uns auf die Terrasse hinausgehen.« Sie ergriff seine Hand und führte ihn durch die Glastür auf eine hölzerne Terrasse, auf der Ampeln mit Farn und Bougainvillea von den Balken herabhingen. Der Fluß lag unter ihnen. Sie ließen sich auf weißen Korb-Schaukelstühlen nieder. »Wie geht es Carmen?« fragte sie, während sie aus einem Keramikkrug Eistee einschenkte.
»Gut. Immer noch in Berkeley. Wir telefonieren jede Woche miteinander. Sie hat einen Freund - es scheint ziemlich ernst zu sein.«
»Was studiert sie? Ich habe es vergessen.«
»Psychologie. Will ihren Doktor machen und dann vielleicht unterrichten.« Der Tee enthielt zuviel Zitrone und zu wenig Zucker. Adam trank ihn langsam. Die Luft war immer noch warm und feucht. »Es ist fast zehn Uhr«, sagte er. »Warum ist es so heiß?«
»Willkommen in Memphis, Junge. Wir schmoren hier bis Ende September.«
»Das könnte ich nicht aushalten.«
»Man
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