Die Kammer
mir beinahe gedacht.« Er fing sogar an, in seinen Papieren zu blättern, als enthielte die Akte noch viele weitere Überraschungen. »Sam ist ein sehr einsamer Mann gewesen in seiner Zelle, und ich habe mich oft gefragt, was mit seinen Angehörigen ist. Er bekommt gelegentlich Post, aber fast nie von seiner Familie. Praktisch keine Besucher. Nicht, daß er welche haben wollte. Aber es ist ein bißchen ungewöhnlich, daß jemand in seiner Situation von seinen Angehörigen völlig ignoriert wird. Besonders ein Weißer. Das soll nicht bedeuten, daß ich mich in Ihre Angelegenheiten einmischen will.«
»Natürlich nicht.«
Lucas ignorierte das. »Wir müssen Vorbereitungen treffen für die Hinrichtung, Mr. Hall. Zum Beispiel müssen wir wissen, was mit der Leiche geschehen soll. Wo sie begraben werden soll und so weiter. Das ist der Punkt, wo die Familie ins Spiel kommt. Nach meinem Gespräch mit Garner gestern habe ich einige unserer Leute in Jackson gebeten, die Angehörigen ausfindig zu machen. Es war im Grunde ganz einfach. Außerdem haben sie Ihre Papiere überprüft und sofort festgestellt, daß der Staat Tennessee keinerlei Unterlagen über die Geburt von Adam Hall am 12. Mai 1964 hat. Und so führte eins zum anderen. Es war nicht schwie rig.«
»Ich verstecke mich nicht mehr.«
»Wann haben Sie das mit Sam erfahren?«
»Vor neun Jahren. Meine Tante, Lee Booth, hat es mir gesagt, nachdem wir meinen Vater begraben hatten.«
»Haben Sie jemals mit Sam Kontakt aufgenommen?«
»Nein.«
Lucas klappte die Akte zu und lehnte sich auf seinem knarrenden Stuhl zurück. »Also hat Sam keine Ahnung, wer Sie sind oder weshalb Sie hier sind?«
»So ist es.«
»Wow«, sagte er leise zur Zimmerdecke.
Adam entspannte sich ein wenig und setzte sich gerader hin. Die Katze war jetzt aus dem Sack, und wenn da nicht Lee gewesen wäre und ihre Angst vor Entdeckung, dann wäre ihm jetzt völlig wohl in seiner Haut gewesen. »Wie lange darf ich ihn heute sehen?« fragte er.
»Also, Mr. Hall...«
»Nennen Sie mich einfach Adam, okay?«
»Gern. Also, Adam, es gibt zweierlei Vorschriften für den Todestrakt.«
»Entschuldigen Sie, aber mir wurde am Tor gesagt, daß es keinen Todestrakt gibt.«
»Nicht offiziell. Sie werden nie hören, daß die Wärter oder andere Angestellte ihn anders nennen als Hochsicherheitstrakt oder HST oder Bau 17. Wie dem auch sei, wenn die Zeit eines Insassen nahezu abgelaufen ist, lockern wir die Vorschriften ein wenig. Normalerweise ist die Besuchszeit für einen Anwalt auf eine Stunde pro Tag beschränkt, aber in Sams Fall können Sie sich so viel Zeit lassen, wie Sie brauchen. Ich nehme an, Sie haben eine Menge zu besprechen.«
»Es gibt also keine zeitliche Beschränkung?«
»Nein. Sie können den ganzen Tag bleiben, wenn Sie wollen. Wir versuchen, die Dinge so einfach wie möglich zu machen während der letzten Wochen. Sie können kommen und gehen, wann immer Sie wollen, sofern es dabei kein Sicherheitsrisiko gibt. Ich bin in den Todestrakten von fünf anderen Staaten gewesen, und glauben Sie mir, wir behandeln sie am besten. In Louisiana zum Beispiel holen sie den armen Kerl aus seiner Zelle und stecken ihn während der letzten drei Tage vor der Hinrichtung in etwas, das Todeshaus genannt wird. Ziemlich grausam. So etwas tun wir nicht. Sam wird eine Sonderbehandlung genießen bis zu dem großen Tag.«
»Dem großen Tag?«
»Ja. In vier Wochen, wußten Sie das nicht? Am 8. August.« Lucas griff nach einigen Papieren auf seinem Schreibtisch und gab sie Adam. »Das ist heute morgen gekommen. Das Fünfte Berufungsgericht hat gestern nachmittag den Aufschub beendet. Das Gericht des Staates Mississippi hat als neuen Hinrichtungstermin den 8. August festgesetzt.«
Adam hielt die Papiere in der Hand, ohne sie anzuschauen. »Vier Wochen«, sagte er fassungslos.
»Ja, leider. Ich habe vor ungefähr einer Stunde Sam eine Kopie davon gebracht, und seine Stimmung ist entsprechend.«
»Vier Wochen«, wiederholte Adam, fast zu sich selbst.
Er warf einen Blick auf die Entscheidung des Gerichts. Der Fall trug die Bezeichnung Staat Mississippi gegen Sam Cayhall. »Ich meine, ich sollte jetzt mit ihm sprechen, meinen Sie nicht?« sagte er, ohne nachzudenken.
»Ja. Hören Sie, Adam, ich bin nicht einer von den bösen Buben, okay?« Lucas stand langsam auf und wanderte zur Schreibtischkante, um sich darauf niederzulassen. Er verschränkte die Arme und sah auf Adam herunter. »Ich tue nur meinen Job. Ich
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