Die Kampagne
hätte er gewusst, was sein Chef getan hatte. Der Kapitän war Brite, geboren und aufgewachsen in London.
Aber morgen würden die Kinder kommen. Creels Leben war ein einziger, steter Ausgleichsversuch. Für jede böse Tat eine gute. Ja, er freute sich wirklich auf die Kinder.
Und er würde ihnen ein brandneues Haus bauen, in dem es sich gut Waise sein ließ.
Kapitel 61
D ie Stahlbahre wurde mit einem lauten Klappern herausgerollt, das Shaw bis in die Zehen spürte. Es roch nach Chemikalien, Urin und anderen Dingen, über die Shaw gar nicht nachdenken wollte.
Frank stand neben ihm.
»Shaw, du musst das nicht tun«, sagte er. »Du solltest es lieber sein lassen. Warum willst du sie so in Erinnerung behalten? An diesem Ort?« Er machte eine weit ausholende Handbewegung.
»Du hast recht«, sagte Shaw. »Trotzdem muss ich es tun.«
Frank seufzte und nickte dem Bediensteten zu.
Einen Augenblick lang, als die Finger des Mannes das Laken packten, wäre Shaw am liebsten davongerannt - hinaus ins Tageslicht, ehe es zu spät war. Stattdessen stand er einfach nur da, während das Laken gehoben wurde, und starrte auf Anna hinunter ... oder auf das, was von ihr übrig war.
Shaw versuchte, nicht die Wunde mitten auf der Stirn anzustarren, die v-förmigen Einschnitte, die der Gerichtsmediziner auf der Suche nach der genauen Todesursache gemacht hatte, oder die beiden Einschusslöcher in ihrer Brust. Doch er konnte nicht anders, als hinzusehen und die vollkommene Zerstörung der schönsten Frau zu betrauern, die er je gesehen hatte. Ihm blieb nicht einmal der Trost ihrer grünen Augen, denn sie waren für immer geschlossen.
Shaw nickte dem Bediensteten zu und drehte sich um. Die Bahre wurde zurückgeschoben und die Tür der Kühlbox geschlossen. Mit Franks Hilfe und zitternden Knien verließ Shaw den Raum.
»Komm. Besaufen wir uns«, sagte Frank.
Shaw schüttelte den Kopf. »Ich muss in Annas Wohnung.«
»Bitte? Bist du so eine Art Masochist oder was? Erst willst du sie in der Kühlbox sehen, und jetzt willst du dir noch ein Stück von deinem Herzen rausreißen? Was soll das, Shaw? Sie kommt nicht wieder.«
»Ich habe dich nicht gebeten mitzukommen, aber ich muss dorthin.«
Frank winkte ein Taxi herbei. »Jaja, aber ich werde dich trotzdem begleiten.«
Sie stiegen ins Taxi. Shaw nannte dem Fahrer die Adresse. Dann steckte er den Kopf aus dem Fenster und kämpfte gegen die Übelkeit an, die ihn zu überwältigen drohte.
Er hätte nicht in die Leichenhalle fahren sollen. Nicht, um sie so zu sehen. Nicht Anna.
Ja, er hätte nicht fahren sollen.
Aber er hatte fahren müssen.
Ein paar Minuten später öffnete Shaw die Tür zu ihrer Wohnung, trat ein und setzte sich auf den Fußboden, während Frank stehen blieb und ihn beobachtete. Shaw ließ den Blick über die vertrauten Dinge schweifen und beruhigte sich langsam wieder. Dies hier war die lebende, atmende Anna, nicht das niedergemetzelte Ding, das er gerade auf der Stahlplatte im Leichenschauhaus gesehen hatte. Hier war Anna nicht tot.
Shaw stand auf und nahm ein Foto vom Kaminsims. Es zeigte ihn und Anna vergangenes Jahr in der Schweiz. Sie war eine gute Skiläuferin, er weniger. Aber der Spaß, den sie gehabt hatten ... Ein weiteres Foto zeigte sie beide in Australien, und auf einem dritten Schnappschuss saßen sie auf einem Elefanten, dem Anna den Spitznamen Balzac gegeben hatte, denn er hatte Kaffee geliebt und ihn mit dem Rüssel aus dem Becher geschlürft.
Überall waren hier Dinge, die sie geliebt hatte.
Überall war sie.
Shaw setzte sich wieder. Ein paar Sekunden lang ertrug er die Millionen offensichtlicher Gedanken, die einem Trauernden in Zeiten wie diesen durch den Kopf gingen. Der Schmerz, den Adolfs Sägeblatt ihm zugefügt hatte, kam nicht ansatzweise an die Qual heran, die Shaw nun empfand. Eine blutige Wunde gegen einen zerschmetterten Geist, Leib, Seele ... Dagegen gab es kein Schmerzmittel.
Frank war Shaws veränderter Gesichtsausdruck aufgefallen. »Komm schon, Shaw. Lass uns jetzt einen trinken gehen.«
Shaw erkannte endlich, dass er auch hier nicht bleiben konnte. In mancher Hinsicht war die lebende Anna noch katastrophaler für ihn als die tote auf der Stahlbahre. Alles hier brachte ihm überdeutlich zu Bewusstsein, was er verloren hatte, was sie beide verloren hatten.
Shaw rappelte sich auf, doch ehe Frank ihm helfen konnte, drehte sich der Knauf, und die Tür öffnete sich.
Im nächsten Moment standen sie Annas Eltern
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