Die Kandidaten
Trauergottesdienst mit einem Gebet,
das Martha ausgesucht hatte, gefolgt von Hymnen und
Textrezitationen, die Harry gefallen hätten. Jimmy und Fletcher
lasen je einen Bibelabschnitt, dann stieg Al Brubaker,
Vorsitzender der Partei, die Stufen zu der hölzernen Kanzel
hinauf, um eine Rede zu halten.
Er sah auf die Anwesenden herab und blieb für einige
Augenblicke stumm. »Nur wenige Politiker«, fing er an, »rufen
Respekt und Zuneigung in uns hervor. Wenn Harry heute bei
uns sein könnte, würde er sehen, dass er zu dieser
handverlesenen Gruppe gehörte. Ich entdecke hier viele
Gesichter, denen ich noch nie begegnet bin« – er schwieg kurz
–, »darum gehe ich davon aus, dass es sich bei ihnen um
Republikaner handeln muss.« In der Kathedrale brach Gelächter
aus und eine Welle des Beifalls brandete in der Straße auf.
»Harry war ein Mann, der auf die Bitte des Präsidenten, als
Gouverneur des Bundesstaates zu kandidieren, stets erwiderte
›Ich habe meine Arbeit als Senator für Hartford noch nicht
vollendet‹ und diese Arbeit ruhte nie. Harry Gates war
starrsinnig, wortreich, aufbrausend und konnte einen rasend
machen. Er verfolgte aber auch leidenschaftlich die Dinge, an
die er glaubte. Er war loyal seinen Freunden gegenüber und fair
mit seinen Gegnern – ein Mann, dessen Gesellschaft man allein
deshalb suchte, weil er unser Leben bereicherte. Harry Gates
war kein Heiliger, aber es werden Heilige an den himmlischen
Pforten stehen, um ihn in Empfang zu nehmen.
Martha spreche ich unseren Dank aus, weil sie Harry und seine
Träume unterstützte. Einer davon muss noch in Erfüllung gehen.
Wir danken auch Jimmy und Annie, seinem Sohn und seiner
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Tochter, auf die er ungeheuer stolz war. Wir danken Fletcher,
seinem geliebten Schwiegersohn, dem die wenig beneidenswerte
Aufgabe zufällt, die Fackel weiterzutragen. Und Lucy, seiner
Enkelin, die nur wenige Tage nach seinem Tod
Jahrgangssprecherin wurde. Amerika hat einen Mann verloren,
der seinem Land im In- und Ausland diente, im Krieg und im
Frieden. Hartford hat einen öffentlichen Bediensteten verloren,
der sich nicht so leicht ersetzen lässt.
Vor wenigen Wochen hat er mir noch geschrieben« –
Brubaker pausierte kurz – »und mich um Geld gebeten. Der
Mann hatte Nerven! Und zwar für sein geliebtes Krankenhaus.
Er schrieb, er würde nie wieder ein Wort mit mir wechseln,
wenn ich ihm keinen Scheck schicke. Ich wägte das Pro und
Contra dieser Drohung ab.« Es dauerte lange, bis das Gelächter
und der Applaus erstarben. »Ehrlich gesagt kam es Harry nie in
den Sinn, dass man eine Bitte von ihm abschlagen könnte. Und
warum nicht? Weil er sein ganzes Leben lang selbst immer
wieder gegeben hat. Nun müssen wir seinen Traum
verwirklichen und ein Krankenhaus zu seinem Andenken bauen,
auf das er stolz sein kann.
Letzte Woche las ich in der Washington Post, dass Senator
Harry Gates gestorben ist, doch als ich heute Morgen nach
Hartford reiste, kam ich am Seniorenzentrum, an der Bibliothek
und am Gründungsstein des Krankenhauses vorbei und sie alle
trugen seinen Namen. Wenn ich morgen nach Hause
zurückkehre, schreibe ich sofort an die Washington Post ›Sie
haben sich geirrt: Harry Gates lebt und ist bester Dinge.‹«
Auf den Stufen vor der Kathedrale dankten Martha und
Fletcher Al Brubaker für seine warmen Worte.
»Hätte ich etwas anderes gesagt«, erwiderte Al, »dann hätte er
sich auf der Kanzel neben mir materialisiert und eine
Überarbeitung gefordert.« Der Parteivorsitzende schüttelte
Fletcher die Hand. »Ich habe nicht den ganzen Brief von Harry
vorgelesen«, sagte er, »aber ich weiß, Sie wollen den letzten
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Abschnitt sehen.« Er griff in die Innentasche seines Jacketts,
nahm den Brief heraus, faltete ihn auf und reichte ihn Fletcher.
Als Fletcher Harrys letzte Worte gelesen hatte, sah er den
Parteivorsitzenden an und nickte.
*
Tom und Nat stiegen gemeinsam die Stufen vor der Kathedrale
hinunter und mischten sich unter die Menge, die sich allmählich
schweigend auflöste.
»Ich wünschte, ich hätte ihn besser gekannt«, sagte Nat.
»Wusstest du, dass ich ihm einen Vorstandsposten in der Bank
angeboten habe, als er sich aus dem Senat zurückzog?« Tom
nickte. »Er schrieb mir, der einzige Posten, den er noch beziehen
wolle, sei der auf seiner Veranda.«
»Ich habe ihn nur ein paar Mal getroffen«, erzählte Tom. »Er
war natürlich ein Verrückter, aber das muss
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