Die Kandidaten
Sie spielte die Amme. Und das ist meine Mutter.« Su
Ling bemühte sich, nicht triumphierend zu grinsen. »War Kathy
nicht fantastisch? Aber sie will ja auch Schauspiel am Sarah
Lawrence College studieren.«
»Ja, sie war wunderbar. Aber du warst auch nicht schlecht«,
meinte Nat. »Wir waren beide sehr stolz auf dich.«
»Haben Sie das Stück schon einmal auf der Bühne gesehen,
Mr Cartwright?«, fragte Kathy.
»Ja, als Su Ling und ich in Stratford waren. Die Amme wurde
von Celia Johnson gespielt, aber ich nehme nicht an, dass du
schon von ihr gehört hast.«
» Begegnung « , erwiderte Kathy sofort.
»Noel Coward«, sagte Luke.
»Und Trevor Howard spielte an ihrer Seite«, ergänzte Kathy.
Nat nickte seinem Sohn zu, der immer noch in seinem Kostüm
steckte.
»Du bist wahrscheinlich der erste Romeo, der sich in die
Amme verliebt«, scherzte Su Ling.
Kathy grinste. »Es ist sein Ödipuskomplex. Und wie hat Miss
Johnson die Rolle interpretiert? Meine Schauspiellehrerin hat
das Stück als Studentin mit Edith Evans gesehen und sie sagt,
sie habe die Amme wie die Hausmutter an einem Internat
gespielt – streng, aber liebevoll.«
»Nein«, erwiderte Su Ling, »Celia Johnson stellte sie leicht
schrullig und sprunghaft dar. Aber auch liebevoll.«
515
»Was für ein interessanter Ansatz. Ich muss den Direktor
danach fragen. Natürlich hätte ich gern die Julia gespielt, aber
ich sehe einfach nicht gut genug aus«, meinte Kathy ganz
sachlich.
»Aber du bist wunderschön«, rief Luke.
»Du bist in dieser Hinsicht kein glaubwürdiger Zeuge, Luke«,
sagte Kathy und nahm seine Hand. »Schließlich trägst du seit
dem vierten Lebensjahr eine Brille.«
Nat lächelte und dachte, wie viel Glück Luke hatte, eine
Freundin wie Kathy zu besitzen.
»Kathy, möchtest du in den Sommerferien nicht ein paar Tage
bei uns verbringen?«, fragte Nat.
»Ja gern, wenn Ihnen das nicht zu viel Mühe bereitet, Mr
Cartwright«, erwiderte Kathy. »Ich will Ihnen nicht im Weg
stehen.«
»Mir im Weg stehen?«, fragte Nat.
»Ja. Luke hat mir erzählt, dass Sie für das Amt des
Gouverneurs kandidieren.«
*
ORTSANSÄSSIGER
BANKIER
KANDIDIERT
FÜR
GOUVERNEURSAMT verkündete die Schlagzeile auf dem
Titelblatt des Hartford Courant. Ein paar Seiten weiter erschien
ein Profil des brillanten jungen Finanziers, dem man vor
fünfundzwanzig Jahren die Tapferkeitsmedaille verliehen hatte.
Seine Karriere wurde aufgelistet und auch die Rolle erwähnt, die
er bei der Fusion der kleinen Familienbank Russell mit ihren elf
Filialen und der Fairchild Bank mit einhundertundzwei Filialen
im ganzen Bundesstaat gespielt hatte. Nat lächelte, als er sich an
516
das Gespräch mit Murray Goldblatz im Beichtstuhl von St
Joseph erinnerte und an die großzügige Geisteshaltung, mit der
Murray Goldblatz stets den Eindruck vermittelt hatte, es sei
ursprünglich Nats Idee gewesen.
Im Leitartikel des Courant stand, Nats Entscheidung, bei der
republikanischen Nominierung gegen Ralph Elliot anzutreten,
habe eine harte Auseinandersetzung eröffnet, da beide
Kandidaten herausragend seien. In dem Artikel wurde keiner der
beiden bevorzugt und man versprach, fair von dem Duell
zwischen Bankier und Anwalt zu berichten, die einander
bekanntermaßen nicht ausstehen konnten. ›Auch Mrs Hunter
wird kandidieren‹, hieß es im letzten Abschnitt, beinahe als
Nachgedanke, was die Ansicht des Courant hinsichtlich ihrer
Chancen widerspiegelte, nun, da auch Nat sich hatte aufstellen
lassen.
Nat
war
zufrieden
mit
den
Presseberichten
und
Fernsehmeldungen, die seiner Ankündigung folgten, und noch
angenehmer überraschten ihn die positiven Reaktionen auf der
Straße. Tom hatte sich zwei Monate von der Bank beurlauben
lassen, um Nats Wahlkampf zu führen, und Murray Goldblatz
sandte einen beträchtlichen Scheck als Spende für die
Kampagne.
Das erste Treffen fand abends in Toms Heim statt und Nats
Stabschef erläuterte seinem sorgfältig ausgewählten Team,
womit sie es in den kommenden sechs Wochen zu tun
bekommen würden.
Sie würden jeden Morgen noch vor Sonnenaufgang aufstehen
müssen und erst nach Mitternacht ins Bett kommen, was wenig
verlockend klang, aber zu Nats Überraschung war Luke von
dem Wahlkampf fasziniert. Er verbrachte seine Ferien damit,
seinen Vater überallhin zu begleiten, häufig mit Kathy an seiner
Seite. Mit jedem Tag, der verstrich, schloss Nat das Mädchen
mehr ins
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