Die Kandidaten
Antwort Nein.«
»Es ist doch so gut wie unmöglich, dass die Geschworenen
den Worten einer trauernden Witwe keinen Glauben schenken,
die behauptet, Augenzeugin des Mordes an ihrem Ehemann
geworden zu sein.«
»Natürlich war sie Augenzeugin«, erklärte Su Ling. »Sie hat
es ja getan.«
Das Telefon auf Su Lings Nachttisch läutete. Sie nahm den
Hörer ab und lauschte aufmerksam, bevor sie zwei Zahlen auf
dem Notizblock neben dem Telefon notierte. »Danke«, sagte sie.
»Ich richte es ihm aus.«
Su Ling riss das oberste Blatt vom Notizblock und reichte es
ihrem Mann. »Das war Tom. Er wollte dir das Wahlergebnis
mitteilen.« Es standen nur zwei Zahlen auf dem Blatt: 69: 31.
»Ja und? Wer hat 69?«, fragte Nat.
»Der nächste Gouverneur von Connecticut«, erwiderte sie.
*
554
Auf Bitten des Direktors fand die Trauerfeier für Luke in der
Kapelle von Taft statt. Mr Henderson erklärte es damit, dass so
viele Schüler daran teilnehmen wollten. Erst nach Lukes Tod
merkten Nat und Su Ling, wie beliebt ihr Sohn gewesen war.
Die Trauerfeier war schlicht und der Chor, dessen stolzes
Mitglied er gewesen war, sang William Blakes Jerusalem und
Cole Porters Ain’t Misbehavin’. Kathy las eine Bibelstelle und
der gute, alte Thomo eine weitere. Der Direktor hielt die
Trauerrede.
Mr Henderson sprach von einem schüchternen, bescheidenen
Jugendlichen, den alle mochten und bewunderten. Er erinnerte
die Anwesenden an Lukes herausragende Darstellung des
Romeo. Erst an diesem Morgen hatte er erfahren, dass Luke
einen Studienplatz in Princeton hätte bekommen sollen.
Nach der Trauerfeier nahmen Nat und Su Ling an einer
Teeparty teil, die für Lukes engste Freunde im Haus des
Direktors veranstaltet wurde. Der Schulsprecher überreichte Su
Ling ein Fotoalbum mit Fotos und kurzen Aufsätzen von Lukes
Mitschülern. Wann immer Nat später einen deprimierten
Moment hatte, nahm er sich eine Seite aus diesem Album vor,
las den Eintrag und sah das Foto an.
Als sie das Haus des Direktors verließen, entdeckte Nat Kathy,
die mit gesenktem Kopf allein im Garten saß. Su Ling ging zu
ihr, setzte sich neben sie, legte einen Arm um Kathy und
versuchte, sie zu trösten. »Er hat dich sehr geliebt«, sagte Su
Ling.
Kathy hob den Kopf. Tränen strömten über ihre Wangen. »Ich
habe ihm nie gesagt, wie sehr ich ihn liebte.«
555
45
»DAS KANN ICH NICHT TUN«, sagte Fletcher.
»Warum nicht?«, fragte Annie.
»Da fallen mir auf Anhieb hundert Gründe ein.«
»Sind das nicht eher hundert Ausreden?«
»Ich soll den Mann verteidigen, den ich besiegen will?«,
erwiderte Fletcher, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen.
»Ohne Furcht und Tadel«, erklärte Annie.
»Und wie soll ich dann meinen Wahlkampf führen?«
»Das wird der leichtere Teil sein«, meinte Annie. »So oder
so.«
»So oder so?«, wiederholte Fletcher.
»Ja. Wenn er schuldig ist, wird er nicht zum Kandidaten der
Republikaner.«
»Und wenn er unschuldig ist?«
»Dann wird man dich in höchsten Tönen loben, weil du seine
Unschuld bewiesen hast.«
»Das ist weder praktisch noch vernünftig.«
»Noch zwei Ausreden.«
»Warum bist du auf seiner Seite?«, wollte Fletcher wissen.
»Bin ich gar nicht«, widersprach Annie. »Ich bin, um
Professor Abrahams zu zitieren, auf der Seite der
Gerechtigkeit.«
Fletcher schwieg eine Weile. »Ich frage mich, was Abrahams
tun würde.«
»Du weißt genau, was er tun würde … manche Leute
vergessen diese Maßstäbe in dem Augenblick, in dem sie die
Universität verlassen … «
556
»… ich kann nur hoffen, dass wenigstens einer in jeder
Generation sie nicht vergisst«, beendete Fletcher den geflügelten
Ausspruch des Professors.
»Warum besuchst du ihn nicht?«, schlug Annie vor.
»Vielleicht kann er dich überzeugen …«
*
Trotz heftigster Einwände von Jimmy und lautstarker Proteste
der örtlichen Demokraten – genauer gesagt, von jedem außer
Annie –, wurde vereinbart, dass sich die beiden Männer am
darauf folgenden Sonntag kennen lernen sollten.
Man kam überein, sich im Fairchild-Russell-Hauptsitz zu
treffen, da nur wenige Bürger an einem Sonntagmorgen über die
Main Street bummeln würden.
Nat und Tom trafen kurz vor 10 Uhr ein und zum ersten Mal
seit Jahren schloss der Vorstandsvorsitzende der Bank
persönlich die Eingangstür auf und stellte den Alarm ab. Sie
mussten nur wenige Minuten warten, dann tauchten Fletcher und
Jimmy auf. Tom führte sie rasch
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