Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
wieder in London, am Ufer der Themse. Vor mir ragte Cleopatra’s Needle empor. Es war ein grauer Tag, kalt und ruhig, und selbst der Geruch nach Ebbematsch löste Heimweh in mir aus.
Neben mir stand Isis in einem wolkenweißen Kleid, in ihr dunkles Haar waren Diamanten geflochten. Von Zeit zu Zeit leuchteten ihre vielfarbigen Schwingen wie Polarlicht auf.
»Deine Eltern hatten Recht«, sagte sie. »Bastet hat es nicht geschafft.«
»Sie war meine Freundin«, erwiderte ich.
»Ja. Eine gute und treue Dienerin. Aber das Chaos kann nicht ewig unterdrückt werden. Es wird größer. Dort, wo die Zivilisation Risse zeigt, sickert es ein und zerstört sie. Man kann es nicht in den Griff bekommen. Das entspricht einfach nicht seiner Natur.«
Der Obelisk rumpelte und fing schwach zu leuchten an.
»Heute ist es der amerikanische Kontinent«, meinte Isis nachdenklich. »Doch wenn die Götter sich nicht zusammenschließen, wenn wir nicht unsere volle Kraft erlangen, wird das Chaos bald die gesamte menschliche Welt zerstören.«
»Wir geben unser Bestes«, sagte ich. »Wir werden Seth schlagen.«
Isis sah mich traurig an. »Du weißt, dass ich das nicht meine. Seth ist erst der Anfang.«
Das Bild wechselte und ich sah London in Trümmern liegen. Ich hatte ein paar schreckliche Bilder von den Bombenangriffen der deutschen Luftwaffe auf London während des Zweiten Weltkriegs gesehen, aber im Vergleich zu dem hier waren sie harmlos. Die Stadt war dem Erdboden gleichgemacht: kilometerweit nichts als Schutt und Asche, die Themse quoll vor Treibgut über. Nur der Obelisk stand noch, doch er brach vor meinen Augen auf, alle vier Seiten lösten sich ab, als würde sich eine gespenstische Blumenknospe öffnen.
»Ich möchte das nicht sehen«, flehte ich.
»Es wird sowieso bald passieren«, sagte Isis, »genau wie deine Mutter es vorhergesehen hat. Aber wenn du es nicht ertragen kannst …«
Erneut änderte sich die Szenerie. Wir standen im Thronsaal eines Palastes – es war derselbe Raum, den ich schon einmal gesehen hatte, dort hatte Seth Osiris in den Sarg eingesperrt. Die Götter versammelten sich, sie waren Lichtstrahlen, die durch den Thronsaal schossen, sich um die Säulen wanden und schließlich menschliche Gestalt annahmen. Ein Strahl wurde zu Thot mit seinem fleckigen Laborkittel, seiner randlosen Brille und den Haaren, die ihm vom Kopf abstanden. Ein anderer verwandelte sich in Horus, den stolzen jungen Krieger mit silbrig-goldenen Augen. Sobek, der Krokodilgott, hielt seinen wässrigen Zauberstab umklammert und knurrte mich an. Hinter einer Säule huschten Skorpione herum und kamen auf der anderen Seite als Selket, die braun gewandete Spinnentierkönigin, wieder zum Vorschein. Plötzlich schlug mein Herz schneller: Im Schatten hinter dem Thron bemerkte ich einen Jungen in Schwarz: Anubis. Seine dunklen Augen musterten mich mitleidig.
Anubis deutete auf den Thron. Er war leer. Dem Palast fehlte sein Herz. Der Raum war dunkel und kalt, man konnte kaum glauben, dass hier einmal Feste gefeiert worden waren.
Isis wandte sich zu mir. »Wir brauchen einen Herrscher. Horus muss Pharao werden und die Götter und das Lebenshaus vereinen. Es ist die einzige Lösung.«
»Du meinst doch bestimmt nicht Carter«, sagte ich. »Dieser Chaot von einem Bruder – als Pharao? Soll das ein Witz sein?«
»Wir müssen ihm helfen. Du und ich.«
Die Vorstellung war so albern, dass ich in lautes Gelächter ausgebrochen wäre, wenn mich die Götter nicht so ernst angestarrt hätten.
»Ihm helfen?«, fragte ich. »Warum hilft er nicht mir, Pharaonin zu werden?«
»Es gab starke Pharaoninnen«, räumte Isis ein. »Hatschepsut regierte viele Jahre erfolgreich. Nofretetes Macht war so groß wie die ihres Gatten. Doch dir ist ein anderer Weg vorbestimmt, Sadie. Deine Macht beruht nicht darauf, dass du auf einem Thron sitzt. Das ist dir bewusst, oder?«
Wenn ich mir den Thron anschaute, konnte ich Isis bloß Recht geben. Die Vorstellung, dort mit einer Krone auf dem Kopf herumzusitzen und zu versuchen, diesen Haufen übellauniger Götter zu regieren, war absolut nicht verlockend. Trotzdem … Carter?
»Du bist stark geworden, Sadie«, sagte Isis. »Ich glaube, du ahnst gar nicht, wie stark. Bald müssen wir eine Prüfung bestehen. Wenn du deinen Mut und Glauben behältst, werden wir siegen.«
»Mut und Glauben«, antwortete ich. »gehören nicht gerade zu meinen Stärken.«
»Deine Stunde wird kommen«, sagte Isis. »Wir sind auf
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