Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
Mann …« Sadies Kinnlade klappte nach unten. Sie verdrehte den Hals, um die Decke zu betrachten, und ich rechnete schon damit, dass sie ihren Kaugummi verschlucken würde.
»Ja«, meinte Amos. »Das ist der Große Saal.«
Das leuchtete mir ein. Die Decke aus Zedernbalken war vier Stockwerke hoch und wurde von Steinsäulen mit Hieroglyphen getragen. Eine merkwürdige Sammlung von Musikinstrumenten und altägyptischen Waffen schmückte die Wände. Rings um den Saal zogen sich auf drei Stockwerken Ränge wie im Theater, deren Türen sich zur Raummitte hin öffneten. Der Kamin war so riesig, dass ein Auto darin hätte parken können, auf dem Sims darüber stand ein Plasma-Fernseher und links und rechts schwere Ledersofas. Auf dem Boden lag ein Teppich aus Schlangenleder, allerdings war er ungefähr zwölf Meter lang und fünf Meter breit – größer als jede Schlange. Durch die Glasscheibe konnte ich draußen eine Terrasse erkennen, die um das ganze Haus lief. Es gab einen Swimmingpool, eine Essecke und eine lodernde Feuerstelle. Am anderen Ende des Großen Saals war eine Reihe Doppeltüren, auf die das Horusauge gemalt war. Sie waren mit einem halben Dutzend Vorhängeschlössern zugekettet. Was sich wohl dahinter verbarg?
Der absolute Hammer war allerdings die Statue in der Mitte des Großen Saals. Sie war zehn Meter hoch und aus schwarzem Marmor. Es war eindeutig ein ägyptischer Gott, denn die Statue hatte einen Menschenkörper und einen Tierkopf – es sah nach einem Storch oder Kranich aus, mit langem Hals und einem wirklich langen Schnabel.
Der Gott war altertümlich gekleidet und trug Lendenschurz, Schärpe und Halskragen. In der einen Hand hielt er die Schreibbinse eines Schreibers, in der anderen eine geöffnete Schriftrolle, es sah aus, als hätte er die Hieroglyphen gerade erst geschrieben: Es war ein Anch – das ägyptische Kreuz mit der Schlaufe, die von einem Rechteck umschlossen wurde.
»Das ist es!«, rief Sadie. »Per Anch.«
Ich starrte sie ungläubig an. »Warum kannst du das lesen?«
»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Aber es ist doch logisch, oder? Die obere Hälfte sieht aus wie der Grundriss eines Hauses.«
»Wie kommst du darauf? Es ist bloß ein Kästchen.« Aber sie hatte natürlich Recht. Ich kannte das Symbol und es war tatsächlich das vereinfachte Bild eines Hauses mit einem Eingang. Den meisten wäre das allerdings nicht aufgefallen, vor allem nicht einer Person, die Sadie heißt. Trotzdem schien sie sich absolut sicher zu sein.
»Es ist ein Haus«, beharrte sie. »Und das untere Bild ist ein Anch, das Symbol des Lebens. Per Anch – das Lebenshaus.«
»Sehr gut, Sadie.« Amos wirkte beeindruckt. »Und das ist die Statue des einzigen Gottes, der noch Zugang zum Lebenshaus hat – zumindest normalerweise. Erkennst du ihn, Carter?«
Genau in diesem Augenblick kapierte ich es: Der Vogel war ein Ibis, ein ägyptischer Wasservogel. »Thot«, antwortete ich. »Der Gott des Wissens. Er hat die Schrift erfunden.«
»Genau«, bestätigte Amos.
»Und wozu die Tierköpfe?«, fragte Sadie. »Diese ganzen ägyptischen Götter haben Tierköpfe. Das sieht doch voll albern aus.«
»Sie treten für gewöhnlich nicht so in Erscheinung«, erklärte Amos. »Nicht im wirklichen Leben.«
»Im wirklichen Leben?«, fragte ich. »Das klingt ja, als würdest du sie persönlich kennen.«
Amos’ Gesichtsausdruck war nicht gerade beruhigend. Er sah aus, als erinnere er sich an etwas Unangenehmes. »Die Götter konnten in vielen Formen in Erscheinung treten – meistens ganz als Mensch oder ganz als Tier, doch manchmal auch als eine Mischung aus beidem. Wisst ihr, sie sind Urkräfte, eine Art Brücke zwischen Menschheit und Natur. Man stellt sie mit Tierköpfen dar, um klarzumachen, dass sie gleichzeitig in zwei Welten existieren. Versteht ihr?«
»Nicht mal ansatzweise«, meinte Sadie.
»Hmm.« Amos klang nicht überrascht. »Ja, ihr müsst noch eine ganze Menge lernen. Dieser Gott hier, Thot, hat jedenfalls das Lebenshaus gegründet und diese Villa ist die Bezirkszentrale. Zumindest … war sie das. Ich bin das letzte Mitglied des Einundzwanzigsten Nomos. Beziehungsweise war ich das, bevor ihr zwei aufgetaucht seid.«
»Mal langsam.« Ich hatte so viele Fragen, dass ich gar nicht wusste, wo ich anfangen sollte. »Was ist das Lebenshaus? Warum darf nur Thot hier hinein und warum bist du –?«
»Carter, ich verstehe, wie du dich fühlst.« Amos lächelte mich verständnisvoll an.
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