Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
aber jetzt war es offensichtlich: Auf dem Dach des Lagerhauses thronte wie eine weitere Tortenschicht eine fünfstöckige Villa. »Man kann doch da oben keine Villa draufbauen!«
»Lange Geschichte«, meinte Amos. »Aber wir wollten ungestört sein.«
»Ist das nicht das östliche Ufer?«, fragte Sadie. »Das hast du in London erwähnt – dass meine Großeltern am Ostufer leben.«
Amos lächelte. »Sehr gut, Sadie. In alten Zeiten war das Ostufer des Nils immer die Seite der Lebenden, die Seite, wo die Sonne aufging. Die Toten hingegen wurden auf der Westseite des Flusses begraben. Man betrachtete es als Unglück, sogar als Gefahr, dort zu leben. Diese Tradition ist immer noch sehr weit verbreitet unter … unseren Leuten.«
»Unsere Leute?«, fragte ich, aber Sadie hatte schon die nächste Frage parat.
»Du kannst also nicht in Manhattan wohnen?«, fragte sie.
Amos sah mit gerunzelter Stirn zum Empire State Building hinüber. »In Manhattan gibt es andere Probleme. Andere Götter. Besser, jeder bleibt für sich.«
»Andere was?«, bohrte Sadie nach.
»Nichts.« Amos ging an uns vorbei zum Steuermann. Er nahm ihm Hut und Trenchcoat ab – darunter war allerdings niemand. Der Steuermann existierte einfach nicht. Amos setzte seinen Filzhut auf, legte den Mantel über den Arm, dann deutete er auf eine Metalltreppe, die an einer Seite des Lagerhauses zur Villa auf dem Dach hinaufführte.
»Alle an Land«, erklärte er. »Und willkommen im Einundzwanzigsten Nomos.«
»Gnom was?«, fragte ich, während wir hinter ihm die Treppe hinaufstiegen. »So wie die kleinen mickrigen Kerle?«
»Um Himmels willen, nein«, erwiderte Amos. »Ich hasse Gnome. Sie stinken ekelhaft.«
»Aber du hast gesagt –«
» Nomos , N-o-m-o-s. Wie Landstrich, Verwaltungsbezirk. Der Begriff stammt aus alten Zeiten, als Ägypten in zweiundvierzig Gaue unterteilt war. Heute ist das System ein bisschen anders. Wir leben überall auf der Welt, die in dreihundertsechzig Nomoi unterteilt ist. Ägypten ist natürlich der erste. Großraum New York ist der einundzwanzigste.«
Sadie warf mir einen Blick zu und tippte sich mit dem Finger an die Schläfe.
»Nein, Sadie«, sagte Amos, ohne sich umzudrehen. »Ich habe keinen Vogel. Du musst noch viel lernen.«
Wir erreichten das Ende der Treppe. Als ich an der Villa hochsah, konnte ich es nicht fassen. Das Haus war mindestens fünfzehn Meter hoch, aus gewaltigen Kalksteinblöcken gebaut und hatte Fenster mit Metallrahmen. Rings um die Fenster waren Hieroglyphen eingemeißelt und die Mauern wurden angestrahlt. Die Villa sah aus wie eine Kreuzung aus modernem Museum und antikem Tempel. Das Allermerkwürdigste war jedoch, dass das ganze Gebäude zu verschwinden schien, sobald ich den Blick abwandte. Ich versuchte es ein paarmal, um mir sicher zu sein. Wenn ich aus dem Augenwinkel hinsah, existierte die Villa nicht. Ich musste meine Augen zwingen, sich wieder darauf zu konzentrieren, und das gelang mir nur mit viel Willenskraft.
Amos blieb vor dem Eingang stehen, der so groß war wie ein Garagentor – ein dunkles schweres Holzviereck ohne sichtbaren Türgriff oder Riegel. »Carter, nach dir.«
»Äh, und wie soll ich –?«
»Was glaubst du?«
Toll, noch ein Rätsel. Ich wollte schon vorschlagen, dass wir Amos’ Kopf dagegenrammen könnten. Dann sah ich wieder die Tür an und hatte ein absolut seltsames Gefühl. Ich streckte den Arm aus. Langsam hob ich die Hand und die Tür folgte meiner Bewegung – sie glitt nach oben, bis sie schließlich in der Decke verschwand.
Sadie schien völlig verblüfft. »Wie …?«
»Ich weiß es nicht«, gestand ich ein bisschen verlegen. »Vielleicht ein Bewegungsmelder?«
»Interessant.« Amos klang ein wenig beunruhigt. »Ich hätte es anders gemacht, aber sehr gut. Bemerkenswert.«
»Freut mich, dass du zufrieden bist.«
Sadie versuchte, als Erste hineinzugehen, doch sobald sie über die Schwelle trat, wimmerte Muffin, fuhr die Krallen aus und wäre Sadie beinahe vom Arm gesprungen.
Sadie stolperte rückwärts. »Was soll das, Katze?«
»Ah, natürlich«, sagte Amos. »Ich bitte um Entschuldigung.« Er legte der Katze die Hand auf den Kopf und sagte sehr formell: »Du darfst eintreten.«
»Braucht die Katze eine Erlaubnis?«, fragte ich.
»Besondere Umstände«, erklärte Amos, was nicht gerade eine Erklärung war, aber er ging hinein, bevor wir nachhaken konnten. Wir liefen ihm hinterher und dieses Mal gab Muffin keinen Ton von sich.
»Oh
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