Die Kane-Chroniken, Band 1: Die rote Pyramide
fünft in einer Reihe und über sie spannte sich schützend wie ein Regenschirm eine sternenübersäte Frauenfigur. Dad hatte fünf Götter freigesetzt. Hmm.
»Carter«, rief ich. »Was ist das hier?«
Er warf einen Blick auf das Bild und seine Augen leuchteten.
»Das sind sie!«, verkündete er. »Diese fünf … und hier oben, ihre Mutter, Nut.«
Ich lachte. »Eine Göttin, die Nut heißt? Und mit zweitem Namen Ella, oder was?«
»Sehr lustig«, erwiderte Carter. »Sie war die Himmelsgöttin.«
Er deutete auf die bemalte Decke – die Dame mit der sternenübersäten Haut war dieselbe wie in der Schriftrolle.
»Und was hat sie damit zu tun?«, wollte ich wissen.
Carter kniff die Augenbrauen zusammen. »Es geht irgendwie um die Dämonentage. Und um die Geburt dieser fünf Götter, aber es ist ewig her, dass Dad es mir erzählt hat. Die ganze Schriftrolle ist vermutlich in hieratischer Schrift geschrieben. Das ist wie Hieroglyphen in Schreibschrift. Kannst du es lesen?«
Ich schüttelte den Kopf. Anscheinend funktionierte mein ganz persönlicher Irrsinn nur bei Druckschrift-Hieroglyphen.
»Ich wünschte, ich könnte die Geschichte in Englisch finden«, meinte Carter.
Genau in dem Moment knackte es hinter uns. Die Tonstatue mit den leeren Händen sprang von ihrem Sockel und marschierte auf uns zu. Carter und ich wollten zur Seite ausweichen, doch sie ging an uns vorbei, nahm einen Behälter aus der Nische und brachte ihn Carter.
»Das ist ein Such-Uschebti«, sagte ich. »Ein Tonbibliothekar!«
Carter schluckte nervös und nahm den zylinderförmigen Behälter entgegen. »Äh … danke.«
Die Statue marschierte zu ihrem Sockel zurück, sprang hoch und erstarrte wieder.
»Ich frage mich …« Ich musterte den Uschebti. »Sandwich und Pommes, bitte!«
Traurigerweise sprang keine der Statuen herunter, um mich zu bedienen. Vielleicht war Essen in der Bibliothek verboten.
Carter schraubte den Behälter auf und rollte den Papyrus auf. Er seufzte erleichtert. »Diese Version ist auf Englisch.«
Als er den Text überflog, runzelte er noch mehr die Stirn.
»Du siehst nicht glücklich aus«, bemerkte ich.
»Weil mir die Geschichte jetzt wieder einfällt. Die fünf Götter … wenn Dad sie wirklich freigesetzt hat, bedeutet das echt jede Menge Ärger.«
»Wart mal«, unterbrach ich ihn. »Erzähl der Reihe nach.«
Carter holte unsicher Luft. »Okay. Die Himmelsgöttin Nut war mit dem Erdgott Geb verheiratet.«
»Ist das der Typ auf dem Boden?« Ich tippte mit dem Fuß auf den großen grünen Mann mit dem Fluss und den Hügeln und Wäldern auf dem Körper.
»Genau«, bestätigte Carter. »Egal, Geb und Nut wollten Kinder, aber der König der Götter, Re – er war der Sonnengott –, hörte eine schlimme Prophezeiung, dass ein Kind von Nut –«
»Ein Nutellakind«, ulkte ich. »Entschuldigung, erzähl weiter.«
»– dass ein Kind von Geb und Nut eines Tages Re als König ablösen würde. Als Re also erfuhr, dass Nut schwanger war, drehte er durch. Er verbot Nut, ihre Kinder an irgendeinem Tag oder in irgendeiner Nacht des Jahres auf die Welt zu bringen.«
Ich verschränkte die Arme. »Und dann? Musste sie ewig schwanger bleiben? Das ist ja wohl oberfies.«
Carter schüttelte den Kopf. »Nut hat sich was überlegt. Sie forderte den Mondgott, Chons, zum Würfelspiel auf. Jedes Mal, wenn Chons verlor, musste er Nut etwas von seinem Mondlicht abgeben. Am Ende hatte Nut genug Mondlicht gewonnen, um fünf neue Tage zu schaffen und ans Ende des Jahres dranzuhängen.«
»Ach, komm«, sagte ich. »Erstens, wie kann man um Mondlicht spielen? Und selbst wenn, wie kann man daraus zusätzliche Tage schaffen?«
»Es ist doch eine Geschichte!«, sagte Carter. »Ist ja auch egal, der ägyptische Kalender hatte jedenfalls dreihundertsechzig Tage pro Jahr, genau wie ein Kreis in dreihundertsechzig Grad aufgeteilt ist. Nut fügte fünf Tage hinzu – Tage, die nicht zum normalen Jahr gehörten.«
»Die Dämonentage«, riet ich. »Der Mythos erklärt also, warum ein Jahr dreihundertfünfundsechzig Tage hat. Und vermutlich hat sie ihre Kinder –«
»– während dieser fünf Tage zur Welt gebracht«, bestätigte Carter. »Ein Kind pro Tag.«
»Aber wie konnte sie gleichzeitig mit fünf Kindern schwanger sein und dann eines pro Tag auf die Welt bringen?«
»Götter«, sagte Carter. »Götter können so was.«
»Ergibt ungefähr so viel Sinn wie der Name Nut. Aber erzähl bitte weiter.«
»Als Re
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