Die Kane-Chroniken – Der Schatten der Schlange
lebt, aber nur weil er –«
»Anubis’ Gastkörper ist«, beendete Carter den Satz.
»Du wusstest Bescheid?«
Er schüttelte den Kopf. »Erst, als ich deinen Gesichtsausdruck sah. Aber es ergibt Sinn. Walt hat ein Talent für … nenn es, wie du willst. Dieses Händchen für graue Vernichtung. Todesmagie.«
Ich konnte nicht antworten. Ich hatte Carter trösten, ihm versichern wollen, dass alles gut werden würde. Aber irgendwie hatte er es geschafft, den Spieß umzudrehen.
Er legte mir kurz die Hand aufs Knie. »Es könnte funktionieren, Schwesterchen. Anubis kann Walt am Leben halten. Walt könnte ein normales Leben führen.«
»Das nennst du normal?«
»Anubis hatte niemals einen menschlichen Gastkörper. Das ist seine Chance, einen richtigen Körper zu haben und aus Fleisch und Blut zu sein.«
Ich schauderte. »Carter, es ist nicht wie bei Zia. Sie kann das jederzeit trennen.«
»Also jetzt mal Klartext«, sagte Carter. »Die zwei Typen, in die du verknallt warst – einer davon lag im Sterben, der andere war tabu, weil er ein Gott ist –, sind jetzt ein Typ, der nicht stirbt und nicht tabu ist. Und du beschwerst dich.«
»Du brauchst mich gar nicht lächerlich zu machen!«, rief ich. »Ich bin nicht lächerlich!«
Die drei Götter drehten sich zu mir um. Na schön. Sollten sie doch. Ich klang ja wirklich lächerlich.
»Hör zu«, sagte Carter, »wollen wir uns darauf einigen, dass wir deswegen später ausflippen? Vorausgesetzt, wir sterben nicht.«
Ich holte mühsam Luft. »Abgemacht.«
Ich half meinem Bruder aufzustehen. Als die Sonnenbarke die Duat verließ, stellten wir uns im Bug zu den Göttern. Der Fluss der Nacht verschwand hinter uns und wir segelten durch die Wolken.
Unter uns erstreckte sich die ägyptische Landschaft rot und golden und grün im Morgengrauen. Im Westen wirbelten Sandstürme über die Wüste. Im Osten schlängelte sich der Nil durch Kairo. Direkt unter uns, am Rande der Stadt, erhoben sich auf der Ebene von Gizeh drei Pyramiden.
Sobek schlug mit seinem Zauberstab gegen den Bug des Schiffes. Er rief wie ein Herold: »Endlich ist Re wahrhaftig zurückgekehrt! Möge sein Volk jubeln! Mögen sich Scharen versammeln, die ihn anbeten!«
Vielleicht sagte Sobek das als Formalität oder um sich bei Re einzuschleimen, vielleicht auch einfach nur, um dem alten Sonnengott ein noch mieseres Gefühl zu geben. Was immer der Fall war, unten versammelte sich jedenfalls niemand. Und es jubelte auch definitiv niemand.
Ich hatte die Pyramiden schon oft gesehen, aber irgendwas stimmte hier nicht. Überall in der Stadt brannten Feuer. Die Straßen wirkten merkwürdig ausgestorben. Rings um die Pyramiden waren weder Touristen noch sonst ein Mensch zu entdecken. Ich hatte Gizeh noch nie so verlassen gesehen.
»Wo sind die alle?«, fragte ich.
Sobek zischte angewidert. »Hätte ich mir denken können. Die Menschenschwächlinge verstecken sich wegen der Unruhen oder sie sind abgehauen. Apophis hat das gut geplant. Das Schlachtfeld, das er gewählt hat, wird frei sein von menschlichen Nervensägen.«
Ich schauderte. Ich hatte gehört, dass es in Ägypten in letzter Zeit Probleme und außerdem alle möglichen seltsamen Naturkatastrophen gegeben hatte, aber ich hatte sie nicht mit Apophis’ Plan in Verbindung gebracht.
Wenn das das Schlachtfeld seiner Wahl war …
Ich betrachtete die Ebene von Gizeh eingehender. Als ich in die Duat spähte, wurde mir klar, dass das Gebiet doch nicht verlassen war. Um den Fuß der Großen Pyramide lag eine riesige Schlange, die durch einen wirbelnden Tornado aus rotem Sand und Dunkelheit geformt wurde. Ihre Augen waren brennende Lichtpunkte. Ihre Giftzähne Gabeln aus Blitzen. Bei jeder ihrer Berührungen brodelte die Wüste und die Pyramide selbst erbebte in ihren Grundfesten. Eines der ältesten Bauwerke der menschlichen Geschichte war im Begriff einzustürzen.
Selbst aus der Höhe konnte ich Apophis’Anwesenheit fühlen. Er strahlte so viel Panik und Furcht aus, dass ich spüren konnte, wie sich die Sterblichen in Kairo ängstlich in ihren Häusern verkrochen. Ganz Ägypten hielt die Luft an.
Apophis hob seinen gewaltigen Kobrakopf. Er stieß ihn in den Wüstenboden und biss einen hausgroßen Krater in den Sand. Plötzlich schreckte er zurück, als hätte ihn etwas gestochen, und er zischte wütend. Anfangs konnte ich nicht ausmachen, wogegen er kämpfte. Ich rief Isis’ Raubvogelsicht herbei und entdeckte eine kleine geschmeidige Gestalt im
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