Die Kane-Chroniken – Der Schatten der Schlange
Schultern, das Oberhaupt des Lebenshauses zu sein. Leider musste ich dabei auch an Anne Grissom denken, die texanische Magierin mit der Fiedel, die sich kurz vor ihrem Tod noch so prächtig amüsiert hatte.
Das nächste Foto. Ich sah meine Mutter, wie sie mich als Säugling auf dem Knie wippen ließ. Ich hatte damals diesen lächerlichen Afro, mit dem Sadie mich noch heute aufzieht. Auf dem Bild trage ich einen blauen Strampler, der mit Süßkartoffelpüree vollgekleckert ist. Ich halte die Daumen meiner Mutter und mache einen verängstigten Eindruck beim Hoppe-Reiter-Spiel, vermutlich war mein einziger Gedanke: Lass mich runter! Meine Mutter ist selbst im alten T-Shirt und Jeans so schön wie immer, ihr Haar ist mit einem Kopftuch zurückgebunden. Sie lächelt zu mir herunter, als wäre ich das Wunderbarste in ihrem Leben.
Dieses Foto anzusehen tat mir weh, aber ich schaute es trotzdem an.
Mir fiel ein, was Sadie mir erzählt hatte – dass irgendetwas den Geistern der Toten zusetzte und dass wir unsere Mutter vielleicht erst wiedersehen würden, wenn wir herausgefunden hatten, was es war.
Ich holte tief Luft. Mein Vater, mein Onkel, meine Mutter – alle waren sie mächtige Magier. Jeder hatte so große Opfer gebracht, um das Lebenshaus wiederherzustellen.
Sie waren älter, weiser und stärker als ich. Sie blickten auf jahrzehntelange Zaubererfahrung zurück. Sadie und ich nur auf neun Monate. Trotzdem mussten wir etwas tun, was noch keinem Magier je gelungen war – Apophis höchstpersönlich besiegen.
Ich ging zu meinem Schrank und holte mein altes Gepäck herunter. Es war bloß ein schwarzer Lederhandkoffer, wie man ihn zu Tausenden am Flughafen sieht. Ich hatte ihn jahrelang bei den Reisen mit meinem Vater rund um die Welt geschleppt. Er hatte mir beigebracht, nur das mitzunehmen, was ich tragen konnte.
Ich öffnete den Koffer. Er enthielt einen einzigen Gegenstand: eine Statue einer sich windenden Schlange aus rotem Granit mit eingemeißelten Hieroglyphen. Der Name – Apophis – war durchgestrichen und mit mächtigen Bindezaubern überschrieben, trotzdem war diese Statuette der gefährlichste Gegenstand im ganzen Haus – eine Darstellung des Feindes.
Sadie, Walt und ich hatten die Figur heimlich angefertigt (gegen Bastets lautstarke Einwände). Walt hatten wir nur eingeweiht, weil wir sein Wissen zur Herstellung von Amuletten brauchten. Nicht einmal Amos hätte ein so gefährliches Experiment gutgeheißen. Ein Patzer, ein falscher Zauberspruch und diese Statue konnte sich von einer Waffe gegen Apophis in eine weit geöffnete Tür ins Brooklyn House verwandeln. Doch wir hatten das Risiko eingehen müssen. Solange wir keine anderen Mittel fanden, um die Schlange zu besiegen, brauchten Sadie und ich diese Figur für Plan B.
»Dämliche Idee«, sagte eine Stimme vom Balkon.
Auf dem Geländer thronte eine Taube. Irgendwas an ihrem starren Blick hatte etwas sehr Untaubenhaftes. Sie sah furchtlos aus, fast gefährlich; ich erkannte diese Stimme, sie war männlicher und kriegerischer, als man es von einem normalen Mitglied der Taubenfamilie erwarten würde.
»Horus?«, fragte ich.
Die Taube drehte ruckartig den Kopf. »Kann ich reinkommen?«
Ich wusste, dass er nicht nur aus Höflichkeit fragte. Das Haus war mit mächtigen Zaubern belegt, um unerwünschte Nervensägen wie Nagetiere, Termiten und ägyptische Götter draußen zu halten.
»Ich erteile dir die Erlaubnis einzutreten«, sagte ich formell. »Horus, in Gestalt einer … ähem … Taube.«
»Danke.« Die Taube sprang vom Geländer und watschelte ins Haus.
»Was soll das denn?«, fragte ich.
Horus plusterte sich auf. »Nun ja, ich hab mich nach einem Falken umgesehen, aber die sind in New York ziemlich rar. Da ich was mit Flügeln wollte, schien mir eine Taube die beste Wahl. Sie haben sich gut an das Stadtleben angepasst und fürchten sich nicht vor Menschen. Es sind edle Vögel, findest du nicht?«
»Edel«, pflichtete ich bei. »Das ist das erste Wort, das mir zu Tauben einfällt.«
»Allerdings«, sagte Horus.
Sarkasmus schien im alten Ägypten nicht existiert zu haben, Horus war jedenfalls unempfänglich dafür. Er flatterte auf mein Bett und knabberte an einigen übrig gebliebenen Cheerios von Cheops’ Mittagessen.
»Wehe«, warnte ich ihn, »wenn du auf meine Decke kackst –«
»Ich bitte dich. Kriegsgötter kacken nicht auf Decken. Na ja, außer das eine Mal –«
»Vergiss, dass ich irgendwas gesagt habe.«
Horus
Weitere Kostenlose Bücher