Die Kane-Chroniken – Der Schatten der Schlange
Hoffnungsschimmer. Es war nicht bloß die Aussicht, dass wir vielleicht einen Weg finden würden, die Schlange zu besiegen. Anubis’ Worte schwirrten mir durch den Kopf: Der Schatten besteht fort. Es muss einen Weg geben, die Seele vor dem Vergessen zu bewahren.
Wenn sich eine bereits vernichtete sterbliche Seele durch einen Schatten zurückholen ließ, funktionierte das dann auch bei einem Gott?
Ich war so in Gedanken versunken, dass ich kaum bemerkte, dass wir das Gebäude für Bildende Kunst erreicht hatten. Leonid hielt mich fest.
»Portal hier?« Er deutete auf einen Kalksteinblock mit eingemeißelten Figuren, der im Hof stand.
»Ja«, sagte ich. »Danke.«
Kurzversion: Als ich an der Hochstapler-Hochschule anfing, hatte ich mir überlegt, dass es gut wäre, für Notfälle ein ägyptisches Relikt zu haben. Ich tat also das Naheliegende: Ich borgte mir ein Stück eines Kalksteinfrieses aus dem Brooklyn Museum. Das Museum hatte wirklich genug Steinbrocken, da konnten sie wohl einen entbehren.
Ich ließ an seiner Stelle eine Nachbildung zurück und bat Alyssa, ihrem Kunstlehrer den echten ägyptischen Fries als ihr Projekt zu präsentieren – als einen Versuch, eine antike Kunstform nachzuahmen. Er stellte »Alyssas« Kunstwerk im Hof vor dem Klassenraum auf. Die in Stein gemeißelten Figuren waren Trauernde bei einem Begräbnis, was ich für eine Schule eigentlich ganz passend fand.
Es war kein mächtiges oder wichtiges Kunstwerk, doch alle Relikte des alten Ägypten besitzen eine bestimmte Macht, sie sind wie magische Batterien. Mit dem richtigen Training kann ein Magier sie als Starthilfe für Zauber verwenden, die ansonsten nicht funktionieren würden, zum Beispiel das Öffnen von Portalen.
Ich beherrschte diese spezielle Magie mittlerweile ziemlich gut. Leonid hielt Wache, während ich den Sprechgesang anstimmte.
Die meisten Magier warten »günstige Momente« ab, um Portale zu öffnen. Sie verbringen Jahre damit, Zeittafeln mit wichtigen Jahrestagen auswendig zu lernen. Zum Beispiel die Tageszeit, zu der jeder Gott geboren wurde, die Sternenkonstellation und was weiß ich. Ich hätte mir wahrscheinlich auch einen Kopf über solche Dinge machen sollen, aber ich tat es nicht. In Anbetracht der vielen Tausend Jahre ägyptischer Geschichte gab es so viele günstige Momente, dass ich einfach so lange sang, bis ich einen erwischte. Ich musste natürlich darauf hoffen, dass sich mein Portal nicht in einem ungünstigen Moment öffnete. Das hätte alle möglichen unangenehmen Nebenwirkungen haben können – aber was wäre das Leben ohne ein bisschen Risiko?
(Carter schüttelt den Kopf und brabbelt vor sich hin. Keine Ahnung, warum.)
Vor uns bewegte sich die Luft. Ein runder Durchgang wurde sichtbar – ein Wirbel aus goldenem Sand – und Leonid und ich sprangen hinein.
Ich würde euch gern erzählen, dass mein Zauber einwandfrei klappte und wir im Ersten Nomos landeten. Aber leider verfehlte ich das Ziel ein bisschen.
Das Portal spuckte uns ungefähr hundert Meter über Kairo aus. Im freien Fall sauste ich durch die Nachtluft auf die Lichter der Stadt unter mir zu.
Ich bekam keine Panik. Ich hätte mich mit allen möglichen Zaubersprüchen aus der Situation retten können. Ich hätte mich sogar in einen Milan verwandeln können, auch wenn das nicht meine bevorzugte Art zu reisen war. Aber bevor ich irgendetwas unternehmen konnte, packte mich Leonid an der Hand.
Die Windrichtung änderte sich. Plötzlich glitten wir im langsamen Sinkflug über die Stadt. Wir landeten sanft kurz hinter der Stadtgrenze in der Wüste, in der Nähe einer Ruinenansammlung, von der ich wusste, dass sie einen Eingang zum Ersten Nomos verbarg.
Ich blickte Leonid erstaunt an. »Du hast die Macht Schus angerufen!«
»Schu«, wiederholte er grimmig. »Ja. Nötig. Was ich machen … verboten.«
Ich lächelte erfreut. »Du schlauer Junge! Du hast dir den Weg der Götter selbst beigebracht? Ich wusste schon, warum ich dich nicht in eine Bananenschnecke verwandelt habe.«
Leonids Augen wurden groß. »Nicht Bananenschnecke! Bitte!«
»Das war ein Kompliment, Dummkopf«, sagte ich. »Verboten ist gut! Sadie mag verboten! Los, komm. Du musst meinen Onkel kennenlernen.«
Carter würde die unterirdische Stadt zweifellos bis ins kleinste Detail beschreiben, mit dem genauen Maß jedes Raums, stinklangweiligen Geschichten zu jeder Statue und Hieroglyphe und Hintergrundinfos zur Konstruktion der magischen Zentrale des
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