Die Kane-Chroniken – Der Schatten der Schlange
verzweifelt. »Erzähl bitte weiter.«
»Wir haben über nichts Besonderes gesprochen«, erinnerte sich Taweret. »Wir hielten Händchen. Das war alles. Aber ich fühlte mich ihm so nahe. Einen kurzen Moment blickte ich auf die Lehmwand neben uns und da sah ich im Licht der Fackeln Bes’ Schatten. Normalerweise haben Götter ihre Schatten nicht so dicht bei sich. Er muss großes Vertrauen zu mir gehabt haben. Als ich ihn darauf ansprach, hat er gelacht. Er sagte: ›Das ist ein guter Ort für meinen Schatten. Ich glaube, ich lass ihn hier. Auf diese Weise kann er immer glücklich sein, selbst wenn ich es nicht bin.‹«
Die Geschichte war so rührend und traurig, dass ich sie kaum ertragen konnte.
Unten am Ufer kreischte der alte Gott Der die Flamme umarmt etwas über Pudding. Zia stand in der Brandung und versuchte, die beiden Götter zu trennen, die sie jedoch vereint mit Lava bewarfen. Erstaunlicherweise schien ihr das nichts auszumachen.
Ich drehte mich zu Taweret. »Diese Nacht in Saïs – wie lange ist das her?«
»Ein paar Tausend Jahre.«
Ich verlor den Mut. »Meinst du, der Schatten könnte immer noch dort sein?«
Sie zuckte hilflos die Achseln. »Saïs wurde vor Jahrhunderten zerstört. Der Tempel steht nicht mehr. Bauern haben das antike Bauwerk abgerissen und die Lehmziegel als Dünger verwendet. Der Großteil der Anlage ist wieder Sumpf.«
Verdammt. Ich war nie ein Fan ägyptischer Ruinen gewesen. Von Zeit zu Zeit hatte ich Lust gehabt, eigenhändig ein paar Tempel niederzureißen. Doch dieses eine Mal hätte ich mir gewünscht, dass die Ruine noch stand. Diesen Bauern hätte ich gern den Hintern versohlt.
»Dann besteht also keine Hoffnung?«, fragte ich.
»Oh, es besteht immer Hoffnung«, sagte Taweret. »Man könnte das Gebiet absuchen und nach Bes’ Schatten rufen. Du bist seine Freundin. Falls er noch dort ist, zeigt er sich dir vielleicht. Und falls Neith noch dort ist, kann sie vielleicht auch helfen. Vorausgesetzt, sie macht nicht Jagd auf dich …«
Ich beschloss, nicht weiter über diese Möglichkeit nachzudenken. Ich hatte schon genug Probleme. »Wir müssen es versuchen. Wenn wir den Schatten finden können und auf den richtigen Zauberspruch kommen –«
»Aber Sadie«, sagte die Göttin, »dir bleibt so wenig Zeit. Du musst Apophis aufhalten! Wie kannst du da auch noch Bes helfen?«
Ich sah zu dem Zwergengott. Dann beugte ich mich zu ihm hinunter und küsste seine wulstige Stirn. »Ich habe etwas versprochen«, sagte ich. »Außerdem werden wir ihn brauchen, wenn wir gewinnen wollen.«
Glaubte ich das wirklich? Mir war klar, dass Bes, auch wenn er in seiner Speedo wirklich schrecklich aussah, Apophis nicht durch ein simples »Buh!« in die Flucht schlagen konnte. Bei einer Schlacht, wie sie uns bevorstand, war ich nicht sicher, ob es wirklich auf einen Gott mehr oder weniger ankam. Und noch weniger sicher war ich, ob diese umgekehrte Schattenprozedur bei Re funktionieren konnte. Trotzdem musste ich es mit Bes versuchen. Wenn die Welt übermorgen unterging, würde ich nicht sterben, ohne dass ich alles zur Rettung meines Freundes versucht hatte.
Von all den Göttinnen, die ich kennengelernt hatte, konnte Taweret meine Motive wahrscheinlich am ehesten verstehen.
Sie legte schützend die Hände auf Bes’ Schultern. »Wenn das so ist, Sadie Kane, wünsche ich dir Glück – für Bes und für uns andere.«
Ich ließ sie auf dem Kai zurück. Sie stand hinter Bes, es sah aus, als würden die beiden Götter gemeinsam einen romantischen Sonnenuntergang genießen.
Am Strand ging ich zu Zia, die sich Asche aus den Haaren schüttelte. Bis auf ein paar Brandlöcher in den Hosen sah sie völlig unversehrt aus.
Sie deutete auf die Lava, wo Der die Flamme umarmt und Heißfuß sich wieder vertrugen. »Sie sind gar nicht so böse«, sagte Zia. »Sie brauchen bloß ein bisschen Zuwendung.«
»Wie Haustiere«, sagte ich. »Oder mein Bruder.«
Zia lächelte tatsächlich. »Hast du die Information bekommen, die du brauchst?«
»Ich glaube schon«, sagte ich. »Aber wir müssen zuerst in die Halle der beiden Wahrheiten. Setnes Prozess findet gleich statt.«
»Wie kommen wir dorthin?«, fragte Zia. »Wieder eine Tür?«
Ich starrte auf den Feuersee und überlegte. Ich erinnerte mich, dass die Halle der beiden Wahrheiten auf einer Insel irgendwo in diesem See gewesen war, aber Duatgeografie ist eine Sache für sich. Soweit ich wusste, lag die Halle in einer völlig anderen Ebene in
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