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Die Kanonen von Navarone

Die Kanonen von Navarone

Titel: Die Kanonen von Navarone Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alistair MacLean
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verging eine endlos scheinende Viertelstunde, als sie, in der Stille zwischen den Donnerschlägen, im kleinsten Geräusch das Nahen einer feindlichen Patrouille zu hören glaubten – da begann sich, etwa in der Mitte des Felskamins, langsam Millers Gestalt aus der Dunkelheit abzuheben. Er kletterte gleichmäßig ruhig, aber dicht vor dem Rand des Kamins stutzte er plötzlich und tastete unsicher mit den Händen über die Erde an der Oberfläche. Verwundert bückte sich Mallory und blickte in das hagere Gesicht: Miller hatte beide Augen fest zugekniffen.
    »Ausruhen, Korporal«, sprach Mallory ihm freundlich zu, als sie ihn an die Oberfläche zogen, »Sie sind ja angelangt.«
    Langsam öffnete Miller die Augen, drehte sich um, warf einen Blick nach dem Rand des Abgrunds, dann kroch er schnell auf Händen und Knien in den Schutz der nächsten Felsblöcke. Mallory ging ihm nach und fragte ihn neugierig: »Weshalb haben Sie denn, als Sie oben waren, die Augen geschlossen? Können Sie mir das sagen?«
    »Habe ich ja gar nicht«, widersprach Miller.
    Als Mallory schwieg, erklärte er müde: »Geschlossen hatte ich sie unten schon, und hab' sie eben erst aufgemacht.«
    »Was, den ganzen Weg, ohne hinzusehen?« Mallory wollte es nicht glauben.
    »Wie ich Ihnen schon erklärt habe, Boß«, sagte Miller vorwurfsvoll. »In Castelrosso. Wenn ich bloß über eine Straße gehe und auf den anderen Bürgersteig hochtrete, muß ich mich schon an den nächsten Laternenpfahl klammern. So ungefähr.« Er hielt inne, blickte nach Andrea, der sich gerade weit über den Klippenrand vorbeugte, und sagte, wieder erschauernd: »Mein Gott, was hab' ich für Angst ausgestanden!«
    Furcht. Schrecken. Panik. ›Tue das, was du fürchtest, dann verlierst du bestimmt die Furcht. Tue, was du fürchtest, dann verlierst du bestimmt die Furcht.‹ Einmal, zweimal, hundertmal hatte Andy Stevens das vor sich hingesprochen wie eine Litanei. Ein Psychiater hatte ihm früher diesen Satz zitiert, den er später wiederholt auch gelesen hatte. ›Tue das, was du fürchtest, dann verlierst du bestimmt die Furcht.‹ Der Verstand, hatte man ihm erklärt, ist begrenzt, er kann immer nur einen Gedanken haben, nicht mehrere zugleich, und nur einen Impuls zur Tat. ›Sagen Sie sich: Ich bin tapfer, ich überwinde diese Furcht, diese dumme unvernünftige Panik, die nur in meinem eigenen Gehirn entstanden ist, und dann werden Sie – weil eben der Verstand nur einen Gedanken halten kann und weil Denken und Empfinden eins sind – tapfer sein, werden sich überwinden, und die Furcht wird entfliehen wie ein Schatten in der Nacht.‹ Und so sprach Andy Stevens sich das alles vor, und die Schatten wurden länger und stärker, und die eisigen Krallen der Angst gruben sich immer wilder in sein abgestumpftes, erschöpftes Gehirn, in seinen qualvollen, verkrampften Leib.
    Sein Leib, dieser knotige Ballen zuckender Nervenstränge unter dem Magennerv. Niemand konnte wissen, was das für ein Gefühl war, nur Menschen wußten es, deren zerfaserter Verstand dicht vor dem endgültigen Zusammenbruch war. Die Wellen der Angst, der Schwäche und der Übelkeit, die durch die würgende Kehle in sein Gehirn drangen, wo der umnebelte, ausgelaugte Verstand mit kraftlosen, gleichsam wolligen Fingern sich am Rande eines Abgrunds festzuklammern suchte, dieser zerfleischte Verstand, der, nur für Momente denkfähig, sich dennoch gegen die Forderung des längst überspannten Nervensystems, loszulassen und die so verzweifelt ums Seil gekrallten zerschundenen Finger zu öffnen, heftig wehrte. Es wäre so einfach gewesen. »Ruhe nach Mühsal, Hafen endlich nach stürmischer See.« Hieß nicht so der berühmte Vers von Spencer? Laut schluchzend lockerte Stevens wieder eine Eisenklammer, schleuderte sie in die See, die hundert Meter unter ihm lauerte, preßte sich dicht an die Klippenwand und zog sich verzweifelt höher.
    Furcht. Furcht hatte sein ganzes Leben lang neben ihm gestanden, war sein ständiger Begleiter, sein zweites Ich gewesen. Und wenn sie nicht neben ihm stand, lauerte sie ganz in der Nähe, immer bereit, zu kommen oder wiederzukommen. Er hatte sich an sie gewöhnt, manchmal fast mit ihr ausgesöhnt, aber die Tortur dieser Nacht war mehr, als er bei aller Leidensfähigkeit und der Vertrautheit mit Bergtouren aushalten konnte. So wie heute hatte er es noch niemals empfunden, doch sogar in seiner angstvollen Verwirrung ward ihm, wenn auch unklar, bewußt, daß die Furcht nicht

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