Die Kanonen von Navarone
was ist mit dem denn los?« schimpfte Mallory. »Der braucht ja einen ganzen Tag …« Er sprach nicht aus, legte die hohlen Hände vor den Mund und rief nach unten: »Stevens! Stevens!« Aber nichts deutete ihm an, daß Stevens gehört hatte. Er kletterte weiter mit derselben unnatürlichen, übertriebenen Vorsicht, wie ein Roboter im Zeitlupenfilm.
»Der ist gleich am Ende seiner Kraft«, sagte Andrea ohne Aufregung. »Du siehst ja, daß er den Kopf gar nicht hochhebt. Wenn ein Bergsteiger den Kopf nicht hebt, ist er erledigt.« Er rührte sich. »Ich werde zu ihm 'runtergehen.«
»Nein.« Mallory legte ihm die Hand auf die Schulter. »Bleib hier. Ich kann euch nicht beide aufs Spiel setzen … Ja, was gibt's jetzt?« Er merkte, daß Brown wieder ankam, der sich gleich schwer keuchend über ihn beugte.
»Rasch, Sir, rasch, um Gottes willen!« Um diese paar Worte herauszubringen, mußte er zweimal heftig schluckend Luft holen. »Sie sind schon dicht bei uns!«
»Gehen Sie mit Miller zurück an die Felsen«, sagte Mallory hastig. »Uns Deckung geben … Stevens!« Wieder brauste der Wind an der Klippe empor und trug seine Worte davon.
»Stevens! Um Himmels willen, Mensch! Stevens!« Er hatte die Stimme gedämpft und diesmal mußte wohl etwas, vielleicht der verzweifelte Ton, durch den Nebel der Erschöpfung in Stevens' Hirn gedrungen sein, denn er hielt im Klettern inne und hob, eine Hand ans Ohr legend, den Kopf.
»Es kommen Deutsche!« rief Mallory durch die hohlen Hände, so laut er es wagte. »Klettern Sie bis zum Fuß des Kamins und bleiben Sie da. Kein Geräusch machen, klar?«
Stevens hob schlaff eine Hand zum Zeichen, daß er verstanden hatte, und begann wieder zu klettern, jetzt sogar noch langsamer, ungeschickt und mit unsicher tastenden Bewegungen.
»Meinst du, daß er dich verstanden hat?« Andrea war besorgt.
»Ich glaube, aber ich weiß es nicht.« Mallory horchte auf und faßte Andrea am Arm. Es fing wieder an zu regnen, aber nur dünn, und er hatte eben den abgeblendeten Strahl einer Taschenlampe gesehen, der dreißig Meter links von ihm zwischen die Felsblöcke tastete. »Das Seil hinunter«, flüsterte er, »es bleibt ja am untersten Steigeisen hängen. Nun komm – wollen hier verschwinden!«
So vorsichtig, daß sich nicht der kleinste Stein lockerte, robbten Mallory und Andrea auf Ellbogen und Knien allmählich vom Rande des Abgrunds bis zur nächsten Felsengruppe. Die wenigen Meter schienen kein Ende zu nehmen, und ohne Schußwaffe in der Hand fühlte sich Mallory hilflos dem Feind ausgeliefert, und wußte doch, daß diese Befürchtung grundlos war, denn sobald der erste Lichtstrahl auf sie fiel, bedeutete das Tod, jedoch nicht ihren, sondern den des Mannes, der sie anleuchtete. Mallory setzte absolutes Vertrauen in Brown und Miller … So war diese Sorge nebensächlich. Überhaupt nicht entdeckt zu werden, darauf kam es an. Zweimal auf dem letzten kurzen Stück ihres Weges näherte sich ihnen der wandernde Lichtstrahl, das zweitemal bis auf Armeslänge. Jedesmal preßten sie ihr Gesicht in den nassen Erdboden, damit nicht dieser hellere Fleck ihres Körpers sie verriet, und lagen ganz still. Und auf einmal befanden sie sich, fast unerwartet schnell, zwischen den Felsen in Sicherheit.
Nach wenigen Sekunden war Miller neben ihnen, als kaum sichtbare Schattengestalt unter den dunkleren Formen der Felsblöcke ringsum. »Viel Zeit, viel Zeit«, raunte er sarkastisch. »Warum haben Sie nicht noch 'ne halbe Stunde gewartet?« Er wies mit dem Arm nach links, wo kaum noch zwanzig Meter von ihnen entfernt die Taschenlampen blitzten und das Gemurmel kehliger Stimmen jetzt schon deutlich zu hören war. »Besser, wir ziehen uns noch weiter zurück. Die suchen ihren Mann zwischen den Felsen.«
»Ihn oder sein Telefon«, stimmte Mallory ihm leise zu. »Jedenfalls haben Sie recht. Paßt auf, daß keine Waffe an einen Stein stößt. Nehmt die Sachen gleich mit … Und wenn sie Stevens unten entdecken, müssen wir sie alle erledigen. Keine Umstände dann, und keine Rücksicht auf Lärm. Maschinenpistolen.«
Andy Stevens hatte gehört, die Worte aber nicht verstanden. Nicht, weil er zu sehr in Angst gewesen wäre, denn er fürchtete sich nicht mehr. Furcht ist eine geistige Funktion, und sein Gehirn hatte zu arbeiten aufgehört, es war betäubt im Stadium äußerster Erschöpfung, wie zerdrückt von seinem restlos ausgepumpten Körper, der ihm bleischwer vorkam. Er wußte nicht, daß er
Weitere Kostenlose Bücher