Die Kanzlerin - Roman
eine anarchistische Szene entstanden – ichwill sie einmal so nennen –, die sehr viel grösser ist, als wir bislang angenommen haben, eine Szene, die sich fast seuchenartig verbreitet und auch ganz andere Qualitäten hat als das, was wir bisher von Anarchos gewöhnt sind.«
Luzius Wagenbach holte Luft, und Dexter Flimm nutzte die Gelegenheit für ein strukturierendes Zwischenwort: »Es gibt in Deutschland vielleicht ein paar tausend bekennende Anarchisten, in Österreich ein paar hundert – Leute, die gelegentlich bei Demonstrationen auftauchen oder im Netz ihre Texte publizieren, nicht selten gar mit Foto. Um diese Aktivisten oder Aktivitäten aber geht es Herrn Wagenbach nicht und auch nicht um den Schwarzen Block, um die paar vermummten Autonomen, die jedes Jahr auf den 1. Mai und den G-8-Gipfel warten, um ein bisschen Lärm zu machen.«
»Die Anarchoszene«, fuhr Wagenbach fort, »zeichnet sich – naturgemäss – dadurch aus, dass sie keine Anführer oder Wortführer hat und man es auch nicht mit geschlossenen Gruppen zu tun hat, sondern mit einer unübersehbaren Zahl von Individuen, die sich einschlägig äussern. Die Flut von Foren, Blogs und Communitys im Netz, die ganz offensichtlich anarchistische Gedanken verbreiten, wächst täglich, und unsere Abteilung ist schlicht nicht in der Lage, diese Datenmenge auch nur einigermassen seriös zu beobachten, geschweige denn auszuwerten. Aber was ich sagen kann, ist, dass man von einer fast schon explosionsartigen Verbreitung jener Stimmen reden muss, die letztlich als staatsfeindlich einzustufen sind, weil sie ein Selbstbestimmungsrecht für Bürger fordern, das die Ordnung jedes demokratischen Rechtsstaates bedroht.« Seine Worte wirkten, und Wagenbach fuhr nun fast beschwingt fort: »Dass das Internet per se jeder staatlichen Ordnung Konkurrenz macht und jedenfalls theoretisch anarchistische Züge trägt, was uns Sorgen bereiten müsste, darauf habe ich schon vor Jahren hingewiesen. Und auch, dass wir das Netz nicht nur alsneuen Marktplatz sehen dürfen oder als Schauplatz einer exhibitionistischen Gesellschaft, in der sich die Leute gerne selber darstellen. Und dass es falsch ist, wenn der Staat seine Aufmerksamkeit nur auf einige wenige Gebiete lenkt – Stichwort Kinderpornographie –, auch darauf habe ich immer wieder hingewiesen.« Die folgenden Sätze hämmerte Wagenbach wie Nägel in ein morsches Stück Holz: »Die Leute treten – symbolisch gesagt – aus unserem Staat aus wie aus Kirchen oder Parteien, und das massenweise, und die meisten kommentieren das nicht, sie tun es einfach. Und diese Bürger hat der Staat verloren.«
Eisele nickte. »Die Illusion von Freiheit ist in gewisser Weise eine noch gefährlichere als die Gleichheitsidee der Kommunisten. Und im Netz wird die Illusion gepflegt, dass Gemeinschaften weder auf Schutz noch auf Ordnung angewiesen sind, unglaublich naiv, aber so sehen das offenbar viele Nutzer. Nutzniesser aber sind andere.«
»Von Naivität kann aus Sicht des Verfassungsschutzes keine Rede sein, Herr Minister. Die um sich greifende totale Verantwortungslosigkeit, die Absage an den Staat ist Nährboden für Leute, die diesem Staat den Kampf angesagt haben. Lautlos, doch im Vergleich zu 68 hat es Deutschland mit einem Aufstand zu tun, der weit gefährlicher ist, und zwar darum, weil er von allen Schichten getragen wird und sich nicht nur auf die Jugend beschränkt.«
»Es wäre hilfreich«, sagte Flimm, »wenn Sie das Gesagte etwas konkretisieren könnten, Herr Wagenbach.«
»Wir beobachten Vorgänge in der Netz-Anarcho-Szene, die auf eine extrem hohe Gewaltbereitschaft schliessen lassen. Das Motto lautet, etwas salopp gesagt: Gewalt macht Spass, und wenn es keinen Staat mehr gibt, dann ist in Deutschland Party, und zwar das ganze Jahr, ein politisches Komasaufen sozusagen.«
»Andere Merkmale?«, fragte Eisele.
»Politische Motive finden sich vordergründig eher selten. Prominente Leitfiguren gibt es nicht, oder wir kennen diese Anführer nicht, und Wortführer gibt es unzählige. Herr Minister, ich will es so sagen: Deutschland wird einfach weggeklickt. Das ist das eine. Das andere: Immer mehr Leute benehmen sich wie ausser Rand und Band. Und nehmen die Autoritäten in dieser Gesellschaft in ihr Visier. Um sie, so unsere Befürchtung, auch ganz real wegzuklicken.«
Eisele schloss die Augen. »Mir persönlich wird ja immer vorgeworfen, ich würde Anarchisten sehr zu Unrecht automatisch mit Chaos oder
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