Die Kanzlerin - Roman
dem Säntis ein Glas Rotwein«, sagte Merrit Amelie Kranz, zog noch einmal an ihrer Zigarette, seufzte und stieg die Treppe hoch zur Konferenz. Loderer folgte ihr.
»Frau Kanzlerin, alles spricht dafür, dass Sie Regierungschefin bleiben. Weil Sie diesen unbedingten Willen zur Macht haben?«
Die Kanzlerin drehte sich zu Jeremias Schiller und flüsterte ihm ins Ohr: »Strategie ›dumm stellen‹« – und sagte: »Willig bin ich, aber was heisst Macht? Sollte die Frage aber darauf abzielen, wie ich mir meinen politischen Erfolg erkläre, dann kann ich nur sagen: Man muss wissen, was man will, zuerst. Und dann braucht es den Glauben an das Gelingen. Und dann heisst es arbeiten und fleissig sein. Diesen drei Anforderungen bin ich, meine ich, gerecht geworden, bis jetzt, und ich kann nur hoffen, dass die Wähler das erneut honorieren werden. Aber ich will nicht verschweigen, dass ich in meinem Leben auch sehr viel Glück gehabt habe. Darauf habe ich zwar nie spekuliert, aber ich habe es gehabt.«
»Gehört es für Sie auch zum Kapitel Glück, dass Ihre Kronprinzen, einer nach dem anderen, kapituliert und Ihnen das Feld überlassen haben?«
»Ich wusste gar nicht, dass ich Kronprinzen habe. Mein Amt habe ich dem Volk zu verdanken, meiner Partei, den Umständen sicherlich auch. Aber ich habe weder einen Hof noch Höflinge.«
»Der letzte und aussichtsreichste Kronprinz hat gesagt, ihm fehle dieser unbedingte Wille zur Macht, der Sie, Frau Kanzlerin, auszeichne, so wie Ihren Vorgänger auch.«
»Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen, was diesem Herrn, dessen Namen Sie mir ja nicht verraten wollen« – die Medienleute kicherten –, »alles fehlt, was ihn allenfalls dazu befähigen würde, dieses Amt auszufüllen, das ich momentan ausübe. Aber sollten seine Aussagen auf einer Art Selbsterkenntnis beruhen, dann kann ich dazu nur sagen: Von allen Arten der Erkenntnis schätze ich jene der Selbsterkenntnis am meisten.«
»Der Herr, dessen Namen wir hier alle so vertraulich behandeln, hat auch gesagt, dass er nicht bereit sei, diesen Preis zu bezahlen, den die Macht habe, an der Sie nun ja sind und auch noch länger bleiben wollen, Frau Kanzlerin.«
»Wer schachern will, soll das auf dem Marktplatz tun, und zwar möglichst nicht auf dem Marktplatz der Eitelkeiten. Wer Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes geworden ist, hat auch seinen Preis bezahlt, und ich nehme jetzt einfach einmal an, dass das Land Niedersachsen auch nicht gratis angeboten wurde. Ansonsten meine ich, dass jeder seine Rechnungen selbst zu begleichen hat. Und ich nehme für mich in Anspruch, dass ich meine Rechnungen bezahlt habe, und zwar ohne über den Preis zu meckern.«
Grossartig. Manchmal war sie einfach grossartig. Kranich klatschte, als er hörte, dass es im Saal vereinzelte Klatscher auch bei den Journalisten gab. Aber er hatte andere Probleme. Er musste seine Rechnungen bezahlen. Also stand er auf und ging, ohne dass die Kanzlerin das bemerkte.
»Frau Kanzlerin, es ist bekannt, dass Sie gerne wandern. Was ist für Sie das Reizvolle daran?«
»Wenn ich wandere, dann kann ich mich besinnen. Und wenn ich wandere, dann kann ich mich wandeln. Das hat für mich einen engen Zusammenhang.«
»An welche Wandlungen denken Sie konkret, wenn Sie von Wandlung sprechen?«
»Es gibt ja viele Arten von Wandlungen, zum Guten wie zum Bösen hin. Es gibt auch Schlafwandler, Lustwandler, den Wandel der Zeiten oder auch den von Meinungen, und wenn ich wandere, dann wandle ich sozusagen immer auch in mein Innerstes, wo es, wie wir alle wissen, manchmal auch Höhlen gibt, und darum suche ich mir möglichst schöne Wanderwege, das macht Mut, und den braucht es, wenn man, wie ich, unterwegs ist. Schöne Umgebungen färben ab, und wenn eine Wanderung glückt, dann fühlt man sich am Ende farbenfroh und hat vielleicht sogar eine neue Tönung an sich entdeckt, einen neuen Farbtupfer. Aber im Übrigen bin ich eine vergleichsweise unambitionierte Wanderin. Manche wandern ja nicht, sondern pilgern und schreiben dann sehr erfolgreiche Bücher darüber. Ich dagegen freue mich einfach auf das Unterwegssein zu Fuss. Zu gehen, auf seinen eigenen Füssen vorwärtszukommen, das beglückt mich, und von den Blasen will ich jetzt nicht reden.«
»Stichwort Wandern. Haben Sie Verständnis dafür, dass immer mehr Deutsche auswandern oder auswandern wollen?«
»Wandern hat ja nichts mit Nomadentum zu tun. Wer wandert, der hat ein Zuhause, eine Heimat, und
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