Die Kanzlerin - Roman
lockerte seine Führhand und sagte: »Es geht nicht um Vermummte. Es geht nicht um den Schwarzen Block. Es geht nicht um die Hausbesetzerszene und auch nicht um die paar Idioten, die in Berlin Autos abfackeln. Und es geht auch nicht um pazifistische Anarchos wie die Graswurzelrevolutionäre oder andere Grüppchen, die ihre Schriften unters Volk bringen wie die Mormonen.«
Dass Jens Brack erst jetzt lospolterte, erstaunte die Kanzlerin. »Es geht um vieles nicht, Herr Flimm. Aber vielleicht möchte die Bundeskanzlerin ja von uns erfahren, um was es geht.«
Auerbach züngelte zweimal und sagte: »Am ehesten haben wir es in Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern mit dem zu tun, was man früher als Individualanarchismus bezeichnet hat, als Extremform des Liberalismus.«
Die Kanzlerin lachte. »Na, das wird Theoderich aber freuen.«
»Angefangen hat es in den USA«, sagte Flimm. »Mit kleinen Netzwerken wie CrimethInc. oder der Curious George Brigade. Sie haben eine Anarchie gefordert, geschaffen von gewöhnlichen Menschen, die ein aussergewöhnliches Leben leben.«
Bracks Bassbariton untermalte das mit einem herausgestossenen »folk anarchy«.
»Das Volk ist immer anarchisch gestimmt«, meinte die Kanzlerin und langweilte sich schon ein bisschen.
»Die Politik«, sagte Flimm, »beschäftigt sich mit dem, was gegenwärtig abläuft, absolut oberflächlich. Sie klagt über die wachsende Zahl von Nichtwählern, aber darum geht es längst nicht mehr.«
»Sondern?«, fragte die Kanzlerin.
»Es geht um die Kleingärtner, zum Beispiel«, sagte Flimm, »um die sprunghaft wachsende Zahl von Campern oder um Lehrer und Wissenschaftler, die nur noch in ihrer eigenen Welt leben und sich komplett losgesagt haben von dem, was wir Gesellschaft nennen.«
»Am meisten interessiert mich die Campergemeinde«, sagte die Kanzlerin. »Ich dachte, das sei eine holländische Spezialität.«
»Immer mehr Menschen seilen sich ab, leben ihr Leben, und die Politik spricht verharmlosend von einem Rückzug ins Private.«
»Konkret, Herr Auerbach, wenn ich bitten darf.«
»Inselgemeinschaften bilden sich, mit eigenem Verhaltenskodex, eigenen Strukturen und Regeln – der Staat wird ausgeknipst wie eine Glühbirne, wenn es tagt.«
»Wie gesagt, Herr Auerbach, ich mag es konkret.«
»Der Staat hat seine Autorität verloren. Die Leute autorisieren sich selbst. Folk anarchy, wie gesagt.«
Brack brummte sich ein und nahm einen bedrohlich langen Anlauf: »Frau Kanzlerin, die politische Elite dieses Landes veranstaltet ein Affentheater, das bald keine Zuschauer mehr hat. Die Politik ist eine hohle Nuss, und die Leute lassen sich nicht mehr in die Suppe spucken. Sie leben ihr Leben und haben den Staat abgeschüttelt.«
»Der Staat war schon immer eine elitäre Sache«, sagte dieKanzlerin, »woran auch die Demokratie nicht viel zu ändern vermochte, wenn das denn überhaupt eine Zielsetzung war.«
»Frau Kanzlerin«, und jetzt zuckte Auerbachs Zunge unkontrolliert, »auch der Fussball gehört dazu. Sie sind ja ein Fan, wie man so hört, aber diese Menschen können Sie nicht mehr erreichen.«
»Brot und Spiele«, sagte die Kanzlerin, »damit sind wir bis heute ganz gut gefahren.«
»Nein«, sagte Flimm, »das gilt nicht mehr. Die Dynamik ist anders. Die Politik hat ausgespielt, weil das Volk nicht mehr mitspielt. Totalverweigerung.«
»Und die Wut«, sagte Brack mit wütender Stimme, »die Wut der Leute ist eine stille Wut. Aber sie wird, in aller Stille, immer grösser.«
»Hysterische Beschreibungen sind mir ein Gräuel«, sagte die Kanzlerin, »zu mir sind die Leute jedenfalls sehr freundlich.«
Flimm kannte diese Nummer der Kanzlerin, wenn sie auf »Kindidiot« machte. Er ignorierte es und schlug nun einen harten Jab: »Frau Kanzlerin, wenn Sie morgen Opfer eines Attentats werden sollten, dann wäre das für die Menschen nicht mehr als ein Event.«
»Gibt es konkrete Anhaltspunkte für Volksbelustigungen aus solchem Anlass?«
Die Kanzlerin konnte gut in Deckung gehen, wobei ihre Körpersprache das meistens auch klar signalisierte, wenn sie die Schultern hochzog und nach vorn drückte und den Kopf senkte.
Auerbach schwieg lange. »Mein Geheimdienst«, sagte er dann, »geniesst weltweit ein hohes Ansehen.« Er lobte sich gerne, und objektiv gesehen gab es keinen Grund zum Widerspruch. »Die grösste Stärke des Verfassungsschutzes ist unsere technische Überlegenheit, so wie beim BND auch. Da macht uns keiner was vor.
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