Die Kanzlerin - Roman
wollte ich sagen, aber das hab ich jetzt verwechselt: Das Messerchen steckte in einem Ausländer, und ein Schweizer Junge hat ihn auf die Station begleitet, liebenswürdigerweise. ›Wir sind Kumpels‹, hat er gesagt, und ich sagte: ›Ihr seid Idioten, und ich würd euch keinen Zwiebelschäler in die Hand drücken.‹«
Clara verpackte den innen speziell beschichteten Kunststoffbeutel, und Margrit sagte: »Der Krug geht zum Brunnen, bis das Wasser auch dort vergiftet ist.«
Clara schwieg.
»Bist du immer noch auf dem Anarchotrip, Klärchen? Freudvoll / Und leidvoll, / Gedankenvoll sein, / Langen / Und bangen / In schwebender Pein, / Himmelhoch jauchzend, / Zum Tode betrübt; / Glücklich allein / Ist die Seele, die liebt. – Ich find ihn zwar todlangweilig, diesen Egmont, aber sag mir, Klärchen, bist du eine liebende Seele?«
»Nein«, sagte Clara.
»Ich bin so eine Seele«, sagte Margrit, »aber die Geliebten wissen davon nichts. Und ich werde es ihnen auch nie verraten.«
Sie standen vor der Ambulanz, ein Krankenwagen fuhr vor, und Margrit stoppte den Fahrer. »Tot oder lebendig, ich muss ihn haben, er gehört mir.«
»Es ist eine Sie«, sagte der Fahrer, »und es eilt.«
»Eiligen Herzens muss ich dich jetzt leider verlassen, Klärchen«, rief sie und stürmte davon, blieb stehen, rannte zurück und sagte: »Du hast es mir versprochen.«
Clara verstand sofort und lächelte.
»Geht ja«, sagte Margrit, »du bist jetzt in der Schweiz, und da jauchzen und jodeln die Menschen, also pass dich an – und, Clara, pass auf dich auf.«
14.00
Clara sah ein fast weisses Plakat des Kunsthauses Zürich schief an die Küchentür geklebt. Drübergemalt der Befehl: »Niemand kommt rein, wir kommen raus. Dreimal klopfen, warten.«
Clara klopfte dreimal, wartete und ging ins Wohnzimmer. Ecstasy sah traurig aus und ass allein Spaghetti.
»Ich habe auch Hunger«, sagte Clara und bediente sich.
»Was mache ich hier bloss?«, fragte Ecstasy.
»Dein Name, wenn man ihn etwas anders betont, könnte auch als ›Ex-Stasi‹ ausgesprochen werden. Aber keine Angst, kein Verhör, wir essen jetzt Spaghetti, und die schmecken prima.«
»Jeder hat hier seine Aufgabe«, sagte Ecstasy, »und ich?«
»Du bist erstens unsere gute Seele, Kleine, und ein seelenloses Unternehmen könnte nicht erfolgreich sein. Und zweitens assistierst du Tricolor, und drittens kommst du vielleicht schon bald zu einem Einsatz.«
»Wobei?«
»Guten Appetit, Ecstasy. Wie lange sind die drei schon in der Küche? Eine Stunde?«
Clara klopfte wieder dreimal an die Tür und sagte mit ruhiger, aber sehr lauter Stimme: »Rauskommen! Die Lachgasfrau ist da.« Dann sah sie Ecstasy an und wusste, dass sie es auch nicht mehr wusste. Warum sie hier war. Es hatte sich so ergeben, darum.
15.31
»22 Uhr ist o.k. Freue mich auf dich, Controller. Deine Saufrau Male.«
15.33
Die Kanzlerin hasste es, wenn Leute sich verspäteten. Sie schaute auf die Uhr und gab ihnen noch fünf Minuten. Oder zehn. Aber nicht mehr als zehn, dachte sie. Brack nicht da, Auerbach nicht da. Und von Haxer noch keine Antwort. Vor allem aber: kein Wort von ihrem Generalsekretär. Weil er zu feige war? Weil er nichts wusste? Immerhin hatte sich der liebe Johannes Kranich gemeldet. Sie würde ihn morgen treffen, auf ein Schwätzchen. Er fehlte ihr, obwohl schwer zu sagen war, was fehlte, wenn er nicht da war.
»Herr Brack, Herr Auerbach, ach, Herr Flimm gibt sich auch gleich die Ehre. Meine Herren, Sie kommen zu spät und werden sich entsprechend kürzerfassen müssen. Setzen Sie sich.«
Privataudienzen in ihrer Wohnung waren eine absolute Ausnahme, aber sie hatte einfach keine Lust, diesen Urlaubstag im Kanzleramt zu verbringen. »Herr Eisele hat mich kurz überangeblich neue Erkenntnisse in der Anarchistenszene informiert, und darüber möchte ich von Ihnen nun Genaueres erfahren.«
»Homer und Herodot haben unter anarchia eine Gruppe von Menschen oder Soldaten ohne Anführer verstanden …«
»Herr Auerbach, ich will hier keine Geschichtslektion, und Homer habe ich im Übrigen selbst gelesen, also kommen Sie bitte zum Punkt.«
Die Kanzlerin sah, wie der Chef des Verfassungsschutzes kurz seine Zunge herausstreckte, sich dann aber vorläufig beherrschen konnte. Ein Tick. Wenn Kai Auerbach nervös war, züngelte er, und appetitlich war das nicht.
Dexter Flimm, Eiseles Jab, um es im Boxerjargon auszudrücken, und es gab kaum einen grossen Kampf, den die Kanzlerin versäumte,
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